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75 Jahre Deutscher Bundestag: „Als Institution ist und bleibt er widerstandsfähig“
Der Deutsche Bundestag feiert Geburtstag. Was verbinden die Menschen, die dort arbeiten, mit diesem Ort? Wir haben nachgefragt.
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Happy Birthday, Bundestag! Die Bundesrepublik Deutschland feiert ihren 75. Geburtstag und mit ihr das Parlament. Am 7. September 1949 kamen die Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestags zusammen, 382 Männer und 28 Frauen.
Seitdem ist nicht nur der Frauenanteil von knapp sieben auf immerhin 35 Prozent gestiegen. Es gab auch einen Umzug von Bonn nach Berlin, nachdem aus BRD und DDR wieder ein Staat geworden war. Parteien kamen und gingen. 1983 zogen die Grünen ein, 1990 die PDS (heute Linke), 2013 flog die FDP raus, 2017 kam sie zurück. Im selben Jahr wurde die AfD erstmals in den Bundestag gewählt.
Und auch, wenn mit ihr wieder Abgeordnete im Parlament sitzen, die an den Säulen der Demokratie sägen: 75 Jahre Bundestag, das ist ein Grund zum Feiern. Der Tagesspiegel hat fünf Parlamentarier:innen gefragt, was sie mit diesem besonderen Ort verbinden.
Wo ist Ihr Lieblingsort im Bundestag?
Ricarda Lang (Grüne): „Vielleicht nicht sonderlich überraschend, aber für mich ist das tatsächlich der Plenarsaal. Ich empfinde es als große Ehre, die Bürger dort vertreten zu dürfen.“
Der Plenarsaal ist das Herzstück des Deutschen Bundestages. Dort kommen alle Abgeordneten zusammen.
© IMAGO/Political-Moments
Konstantin Kuhle (FDP): „Mein Lieblingsort im Deutschen Bundestag ist die kleine Bibliothek neben dem Plenarsaal. Während der Sitzungen werden hier die Stimmkarten der namentlichen Abstimmungen ausgezählt. Doch außerhalb der Sitzungszeiten ist der Raum ein Ort, an dem man während eines hektischen Tages sehr gut durchatmen kann.“
Heidi Reichinnek (Linke): „Mein Büro – schlicht und ergreifend, weil ich hier mein Team um mich habe, mit denen ich alles teilen kann, die mich unterstützen, im Notfall auch mal Frust abfangen oder spontan Kuchen oder Schnaps auf den Tisch stellen, wenn es gar nicht anders geht.“
Emily Vontz (SPD): „Mein Lieblingsort im Bundestag ist eine kleine Dachterrasse auf dem Jakob-Kaiser-Haus. Ich bin dort zwar leider eher selten, weil der Weg von meinem Büro zur Dachterrasse doch echt weit ist, aber der Blick über das gesamte Regierungsviertel ist toll. Hier merke ich immer nochmal ganz besonders, an welch besonderem Ort ich arbeiten darf.“
Emily Vontz, 23, ist derzeit die jüngste Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Die SPD-Politikerin rückte 2023 für Heiko Maas nach. Sie kommt wie der Ex-Außenminister aus dem Saarland.
© Niklas Toresson
Stefan Nacke (CDU): „Mein Lieblingsplatz am Bundestag ist die Terrasse vor dem sogenannten Lampenladen, wo die Menschen an Sommerabenden am Ufer der Spree unter freiem Himmel Tango tanzen. Ich freue mich sehr über diese Leichtigkeit, mit der sich die Bürgerinnen und Bürger ihren Bundestag aneignen.“
An welchen Moment im Bundestag erinnern Sie sich ganz besonders?
Stefan Nacke (CDU): „Mich bewegt immer noch die Rede von Marcel Reif anlässlich des Holocaustgedenktages Ende Januar dieses Jahres, in der er eindringlich an das Lebensmotto seines Vaters Leon Reif erinnerte. Um zu verhindern, dass seine Kinder von den furchtbaren Schatten seiner Erinnerungen gequält würden, konnte Reifs Vater über seine schrecklichen Erlebnisse als Überlebender eigentlich nur schweigen.“
Doch auf das Leben seines Vaters rückblickend sei ihm irgendwann beinahe schlagartig klar geworden, dass dieser doch gesprochen und ihm all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war, und zwar mit dem als Mahnung, Rat, Warnung oder Tadel gemeinten, im warmen Jiddisch formulierten Satz „Sej a Mensch! – Sei ein Mensch!“
Emily Vontz (SPD): „Direkt nach einer Feierstunde anlässlich des Gedenkens der Opfer des Holocaust im Plenarsaal ging die reguläre Plenardebatte im Bundestag weiter. Ich ging durch die große Tür, sah den riesigen Bundesadler und hörte direkt das aggressive und wütende Schimpfen und Schreien der AfD-Abgeordneten. Ich war von der eindrücklichen Gedenkfeier noch sehr emotional und mir wurde in diesem Moment bewusst, dass im Deutschen Bundestag eine Partei vertreten ist, die den Holocaust verharmlost, Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland vertreiben und Minderheiten unserer Gesellschaft unterdrücken will – eine Partei, die die Zeit zurückdrehen will. Deshalb war dieser Moment sehr eindrücklich und ich werde ihn wohl niemals vergessen.“
Ricarda Lang (Grüne): „Die Debatte um die Impfpflicht hat sich mir besonders eingeprägt. Solch tiefe, kontroverse und zugleich zielorientierte Auseinandersetzungen würde ich mir auch bei anderen Themen mehr wünschen.“
Konstantin Kuhle (FDP): „Ich werde niemals vergessen, wie der Deutsche Bundestag im Februar 2022 erstmals an einem Sonntag zu einer Sondersitzung kam, um über die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu beraten.“
Konstantin Kuhle, 35, sitzt seit 2017 für die FDP im Bundestag. Er stammt aus Niedersachsen und arbeitete als Rechtsanwalt.
© PR
Heidi Reichinnek (Linke): „Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich am Montag nach der Wahl, komplett übernächtigt, aus dem Zug gestiegen bin und den Bundestag von weitem gesehen habe. In diesem Moment zu wissen – ich bin jetzt Mitglied dieses Parlaments, wir haben es geschafft, wir haben die Chance, an dieser Stelle für die Menschen zu kämpfen, das macht mich bis heute dankbar.“
Wie fühlen Sie sich vor einer Rede?
Heidi Reichinnek (Linke): „Vor meiner ersten Rede war ich extrem nervös, eine gewisse Nervosität schwingt bis heute mit – schließlich will ich Menschen ansprechen und überzeugen, brenne für meine Themen und das heißt eben auch, dass es mir wichtig ist, meinen Job gutzumachen. Ich glaube, ein wenig Lampenfieber ist kein schlechtes Zeichen.“
Emily Vontz (SPD): „Ich habe bisher acht Reden im Bundestag gehalten. Am Anfang habe ich mir noch ganz genau aufgeschrieben, was ich sagen will. Mittlerweile macht es mir Spaß, auch auf Zurufe oder vorherige Reden zu reagieren und spontan zu sein. Dadurch bin ich vorher schon etwas angespannt. Wenn ich spätabends eine Rede halte, bin ich aber doch deutlich entspannter, als wenn ich im voll besetzten Plenarsaal zur sogenannten „Kernzeit“ spreche, wenn viele Besucher:innen und viele Abgeordnete zuhören. Aber ich freue mich jedes Mal, im Plenarsaal reden zu dürfen. Es ist eine große Ehre, am Pult zu stehen und vorher zu überlegen, wie ich meine Zeit nutzen kann.
Stefan Nacke (CDU): „Wenn ich von meinem Platz aufstehe und zum Rednerpult unter dem Adler gehe, spüre ich stets etwas Lampenfieber. Bei aller zunehmenden Routiniertheit bleibt es für mich immer etwas Besonderes und eine große Ehre, in diesem Haus reden zu dürfen. Wenn wir Abgeordneten unsere unterschiedlichen Sichtweisen auf die Themen darstellen, zeigen wir in den Plenardebatten als Repräsentanten des Volkes die menschliche Seite der Politik. … Bedeutung und keine Show …“
Stefan Nacke, 48, sitzt seit 2021 für die CDU im Bundestag. Er stammt aus dem Münsterland, vor seiner Karriere in der Politik arbeitete er unter anderem für den Essener Bischof.
© Klaus Altevogt
Konstantin Kuhle (FDP): „Die Tätigkeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag ist eine große Ehre und ein großes Privileg. Bis heute ist jede Rede im Plenum für mich eine Herausforderung, auch wenn ich nun schon viele Reden halten durfte.“
Ricarda Lang (Grüne): „Das hat sich fast nicht verändert, vor jeder Rede bin ich immer noch etwas aufgeregt.“
Was sollte sich im Parlamentsalltag verändern?
Emily Vontz (SPD): „Der Parlamentsalltag ist oft extrem dicht getaktet und voller Termine von morgens bis abends. Abends weiß man manchmal nicht mehr, was man morgens gemacht hat. Wenn mein Team nicht darauf achten würde, das Mittagessen in meinen Kalender zu schreiben, würde ich vermutlich den ganzen Tag durcharbeiten und nicht zum Essen kommen. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses hohe Pensum immer der Qualität der Arbeit zuträglich ist.“
Konstantin Kuhle (FDP): „Während der Corona-Pandemie hat die Zahl digitaler Formate stark zugenommen. Es ist gut, dass sich einige dieser Formate bis heute erhalten haben. Wir sollten aber auch jenseits der Digitalisierung über die Modernisierung des Parlamentsalltags nachdenken, etwa mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bis heute gibt es beispielsweise keine Elternzeit für Abgeordnete. Das hält womöglich Menschen von einer Kandidatur für den Bundestag ab, die mitten im Leben stehen.“
Ricarda Lang (Grüne): „Ich würde mir wünschen, dass der Parlamentsalltag noch etwas familienfreundlicher wird.“
Ricarda Lang, 30, ist Bundesvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen. Sie wuchs in der Nähe von Stuttgart auf und zog 2021 in den Bundestag ein.
© Grüne/Elias Keilhauer
Heidi Reichinnek (Linke): „Vor allem die Zeiten, an denen das Plenum tagt und Abstimmungen stattfinden. Das ist nicht nur familienunfreundlich, sondern auch eine massive Belastung vor allem für Menschen mit psychischen oder physischen Einschränkungen. Dabei müssen genau diese Menschen hier vertreten sein. Viele Strukturen ließen sich entzerren, aber leider herrscht immer noch das Denken: Wer viele Stunden da ist, macht bessere Arbeit.“
Stefan Nacke (CDU): „Manchmal hat man den Eindruck, dass die Talkshows das Parlament als Bühne der politischen Auseinandersetzung ablösen. Zuweilen heizt der mediale Unterhaltungsfaktor die Debatten an. Die Verführung gesteigerter Polarisierung und Skandalisierung hinterlässt beim Publikum immer mehr den Eindruck, dass „die“ Politik gar nicht mehr in der Lage sei, Probleme adäquat aufzufassen und zu lösen. Deshalb mag ich die Sachorientierung des Senders „Phoenix“ so sehr, der einen besonderen Schwerpunkt auf Parlamentsberichterstattung legt und den Bürgern wirklich authentische Einblicke in den Politikbetrieb ermöglicht.“
Immer mehr Deutsche wählen rechte Parteien oder sympathisieren mit ihnen. Sorgen Sie sich um die Zukunft des Bundestags?
Heidi Reichinnek (Linke): „Nicht nur um die Zukunft, es gibt jetzt schon genug Anlass zur Sorge: Eine rechtsextreme Partei hat Zugang zu sensiblen Informationen und wird massiv aus öffentlichen Mitteln finanziert. Das kann eine Demokratie nicht hinnehmen.“
Heidi Reichinnek, 36, ist seit 2021 Abgeordnete für die Linke im Bundestag. Sie lebt in Osnabrück.
© DIE LINKE/Felix S. Schulz
Emily Vontz (SPD): „Schon jetzt sitzen auf vielen Plätzen im Plenarsaal AfD-Abgeordnete. Und dieses Bild macht mir Angst, denn möglicherweise werden dort nach der nächsten Bundestagswahl noch mehr rechte oder rechtsextreme Personen sitzen. Abgeordnete einer Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet wird. Schon jetzt halten rechte Abgeordnete diskriminierende, rassistische und menschenverachtende Reden, bei denen man kaum zuhören kann. Sie verpesten die Stimmung im Bundestag und stellen eine Gefahr für unsere offene und tolerante Gesellschaft dar. Deshalb mache ich mir Sorgen um die Zukunft des Bundestages.“
Ricarda Lang (Grüne): „Wenn ich sehe, wie die AfD die demokratischen Werte und Gepflogenheiten des Bundestags immer wieder mit Füßen tritt, macht mir das große Sorgen. Gleichzeitig weiß ich auch, wir sind viele, die die Demokratie verteidigen und der Bundestag als Institution ist und bleibt widerstandsfähig.“
Konstantin Kuhle (FDP): „Die Präsenz einer autoritären und rechtsextremen Partei im Bundestag verändert die Stimmung im Parlament, weil die AfD es oftmals gerade darauf anlegt, die Institutionen der parlamentarischen Demokratie verächtlich zu machen. Jammern nützt aber nichts! Es gilt, die Menschen von den eigenen Ideen zu überzeugen.“
AfD-Abgeordnete im Bundestag.
© dpa/Christoph Soeder
Stefan Nacke (CDU): „Ich bin über die aktuellen Wahlergebnisse schockiert und mich nerven die Polemiken und Provokationen der Extremisten. Mit Blick auf die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus bin ich zuversichtlich, dass unser demokratisches System in Deutschland wehrhaft und gesichert ist. Es liegt an uns allen, ob wir auf das schäbige Spiel der Populisten reinfallen, die immer einfache Antworten geben. Ihr Geschäftsmodell kennt keine Problemlösungen, sie stiften nur Chaos und schüren Ängste. Anstatt ihnen weitere Aufmerksamkeit verschaffen, indem wir uns provozieren lassen, sollten wir uns als Parteien der politischen Mitte darauf konzentrieren, die Leistungsfähigkeit der Politik durch kluge Reformarbeit unter Beweis zu stellen.“
Gibt es Freundschaft in der Politik – auch außerhalb der eigenen Fraktion? Und wie sieht das bei Ihnen persönlich aus?
Ricarda Lang (Grüne): „Klar, Freundschaften über die Parteigrenzen hinweg sind wichtig für das politische Miteinander. Sie geben mir aber auch Halt und Inspiration und sorgen nicht zuletzt immer wieder für lustige und ausgelassene Momente im politischen Alltag. Mit Paul Ziemiak zum Beispiel treffe ich mich auch gerne mal auf ein kühles Getränk zum Feierabend.“
Konstantin Kuhle (FDP): „Ja, es gibt in der Politik innerhalb und außerhalb der eigenen Fraktionen echte Freundschaften.“
Emily Vontz (SPD): „Es gibt coole Leute in meiner Fraktion und auch in anderen Fraktionen. Irgendwie fehlt für richtige Freundschaften im Alltag im Bundestag doch die Zeit, aber ein gemeinsames Kaffeetrinken oder abends mal was essen gehen, ist auf jeden Fall möglich und das mache ich auch sehr gerne.“
Heidi Reichinnek (Linke): „Ich glaube, ohne Freundschaften und gute Beziehungen, auch über die eigenen Parteigrenzen hinweg, wäre Politik oft nicht auszuhalten. Da galt für mich in der Kommunalpolitik und gilt auch heute im Bundestag.“
Stefan Nacke (CDU): „Politische Freundschaft ist für mich einerseits inhaltlich bestimmt durch Authentizität, ähnliche Perspektiven und Wertvorstellungen. Das erlebe ich zumindest teilweise auch fraktionsübergreifend. Politische Freundschaft bedeutet aber auch, dass wir in Berlin, wie in den Wahlkreisen vor Ort oft mehr Zeit mit Politikern als mit unseren Familien verbringen und sich beim gemeinsamen Planen und Tun Kameradschaft entwickelt. Es ist eine große Freude, wenn etwas gemeinsam gelingt. So leutselig ein Politiker sein muss, so wichtig ist es, genau zu wissen, auf wen man sich wirklich verlassen kann. Freundschaft, die mehr als Kameradschaft ist, ist dann etwas wirklich Kostbares.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de