© Andy Phillipson
Akrobatik-Show „Wolf“ im Chamäleon: Entdecke das Tier in dir
Die australische Company Circa zeigt zum 20-jährigen Wiedereröffnungsjubiläum des Chamäleons in Berlin-Mitte eine Inszenierung mit tänzerischer Leichtigkeit, großartiger Musik und tierischer Rudelbildung.
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Der Wolf hat ein Imageproblem, da gibt es nichts zu beschönigen. Gefressenes Rotkäppchen, verschlungene Geißlein, Schafspelz und Werwolfgrusel – positivere Assoziationen dürften die meisten bei diesem anmutigen Raubtier nicht haben.
Womöglich liegt das aber nicht nur am hartnäckigen Erbe der Brüder Grimm oder schrägen Filmen mit Jack Nicholson („Wolf – Das Tier im Manne“!). Sondern auch daran, dass wir Menschen generell zu zahm geworden sind und vor dem Animalischen in uns selbst zurückschrecken. „Was, wenn wir versuchen, auszubrechen?“, fragt Yaron Lifschitz, künstlerischer Leiter der australischen Company Circa. Sprich: Was, wenn wir der Bestie freien Lauf lassen?
Die Antwort geben zehn Akrobatinnen und Akrobaten auf der Bühne des Chamäleon Berlin, wo die Uraufführung der jüngsten Circa-Produktion „Wolf“ gefeiert wird, die in den kommenden Monaten das Theater in den Hackeschen Höfen bespielt. Es ist ein ganz besonderer Premierenabend, weil das Chamäleon zugleich auch 20-jähriges Bestehen seit der Wiedereröffnung 2004 feiert. Und 20 Jahre Intendanz von Anke Politz, der die gesamte Belegschaft – in „Danke Anke“-T-Shirts und mit jeweils einer Blume aufmarschiert – einen Riesenstrauß zum selbst Einsammeln schenkt.
Ein schöner Rahmen für die „Wolf“-Show, die bereits die siebte Zusammenarbeit von Chamäleon und Circa, zwischen Berlin und Brisbane markiert, wo die Company ihren Ursprung hat. Mittlerweile bespielen die australischen Zirkus-Stars die halbe Welt mit mehreren großen Ensembles.
Das Ensemble unternimmt eine innere Fesselsprengung
Die erste Circa-Arbeit im Chamäleon war der Smash-Hit „Wunderkammer“, es folgten Produktionen wie „Circa’s Peepshow“ oder zuletzt „Humans“ – da ging es auch schon um Mensch-Tier-Verschiedenheiten und Wesensverwandtschaften (wozu Yaron Lifschitz damals den schönen Satz sagte: „Alles, was wir körperlich erreichen können, übertrifft ein gut trainierter Affe mit Leichtigkeit“). „Wolf“ spielt jetzt allerdings viel mehr mit dem anziehend-bedrohlichen Potenzial der Thematik. Der erste Teil des Abends steht unter dem Leitmotiv „entdecke das Tier in dir“, was man sich nicht als leichte Übung vorstellen sollte. Nicht jeder ist born to be wild.
Das zehnköpfige Ensemble unternimmt in Lifschitz’ konzentrierter, perfekt durchgetakteter Regie eine innere Fesselsprengung, die sich in entsprechend triebhaften Choreografien äußert.
Die Akrobatinnen und Akrobaten fallen einander buchstäblich an, werfen sich dem anderen an den Hals (oder auf den Rücken), verstricken sich in ruppige Paarbildungskämpfe – mit viel zeitgenössischem Tanz in den Bewegungen und permanent befeuert von den düster-verführerischen Beats und Soundscapes des DJs Ori Lichtik, der seine Karriere auf Techno-Partys und Raves in Tel Aviv begonnen hat und Mitglied der berühmten L-E-V Dance Company von Sharon Eyal und Gai Behar ist.
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Lichtiks großartige Musik impft dem Abend eine ganz eigene Spannung ein, die sich auch auf die Akrobatik überträgt. Die ist kunstvoll wie von Circa gewohnt, vor allem am Seil und bei den Hand-auf-Hand-, beziehungsweise Schulter-auf-Schulter-Performances des Ensembles – mit Höhepunkten wie einem Tanz während des Aufeinanderkletterns, oder einer 360-Grad-Drehung auf den Schultern des Kollegen in den luftigen Höhen einer menschlichen Pyramide. Wobei die Nummern hier selbst für Circa-Verhältnisse beachtlich organisch in die Gesamterzählung eingebunden sind.
Die läuft auf eine Sehnsucht nach Gemeinschaft zu. Im zweiten Teil hat sich das Rudel gefunden, der Mensch ist des Menschen Wolf geworden, allerdings nicht im Sinne einer wechselseitigen Zerfleischung. Circa bietet vielmehr die Utopie eines solidarischen Zusammenlebens ohne verdrängte Begierden an. Ganz unbedrohlich wirkt das beim finalen wölfischen Knurren zwar nicht. Aber faszinierend anzusehen ist es.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de