„Auch der Liberalismus hat seine Gefühlswelt“ : Berliner Soziologin über Emotionen im politischen Streit

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„Auch der Liberalismus hat seine Gefühlswelt“ : Berliner Soziologin über Emotionen im politischen Streit

Aletta Diefenbach erforscht, wie Gefühle in politischen Debatten wirken. Ihre Studien, für die sie AfD- und Pegida-Anhänger in Diskussionen beobachtet hat, stellen geläufige Gegenüberstellungen infrage.

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Frau Diefenbach, warum können uns bestimmte politische Forderungen oder Schlagzeilen so berühren, dass wir Entrüstung oder Wut empfinden?
Weil sie sehr tief sitzende Werte oder Weltsichten in uns berühren. Und wenn diese angegriffen werden, fühlen wir uns verletzt und wollen uns dagegen wehren. Man empört sich und das erhitzt, die Aufregung ist körperlich spürbar.

Um das Zusammenspiel von Emotionen und politischen Argumenten besser zu verstehen, haben Sie 2017 Menschen mit anti-muslimischer Haltung, also Anhänger von AfD, Pegida und der identitären Bewegung, in Gruppendiskussionen beobachtet. Wie lief das?
Es gab die erwartbaren Aufreger wie Migration, verbunden mit der Warnung vor einer vermeintlichen „Islamisierung“ und Kritik an der damaligen Regierung unter Angela Merkel. Doch interessant war, wie die Leute dennoch versuchten, sachlich, ruhig und differenziert zu bleiben. Sie zitierten Statistiken, das Grundgesetz oder Experten, um ihre Sicht zu plausibilisieren. Da wurde also nicht wutentbrannt rumgeschnaubt und gepöbelt, wie rechte Wähler sonst oft wahrgenommen werden.

An welchen Punkten zeigten sich noch starke Gefühle in den Diskussionsrunden?
Was die Leute auch sehr aufgeregt hat, war ein Gefühl nicht verstanden zu werden, also dass sie Zuschreibungen durch andere erfahren, die nicht ihrem Selbstbild entsprechen. Da hieß es dann: Wie kann man uns Nazis nennen? Wie kann man uns unterstellen, nicht demokratisch zu sein? Die Empörung war groß, weil sie den Wert der Demokratie für sich beanspruchten, er identitätsstiftend ist. Die Intensität der Gespräche nahm auch zu, wenn es darum ging, das eigene Leben zu ändern.

Zum Selbstbild der Neuen Rechten gehört, zu sagen: Wir haben ja gar nichts gegen Migranten.

Aletta Diefenbach

In welchen Punkten zum Beispiel?
Zum Selbstbild der Neuen Rechten gehört, zu sagen: Wir haben ja gar nichts gegen Migranten. Sobald es dann aber darum ging, den Ankommenden Teilhaberechte zuzugestehen, zum Beispiel Religionsfreiheit in der Schule anders zu fassen, offenbarte sich, wie eng ihr Verständnis von Demokratie oder Toleranz war.

Wie bauen Sie Kontakt zu den Bürgern für Ihre Studien auf?
Für die genannte Studie bin ich in Berlin auf Demos gegangen und habe Teilnehmer direkt angesprochen, damals war das noch vor allem Pegida, also die „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Ich dachte erst, es ist als Wissenschaftlerin schwierig, an die ranzukommen. Zum Teil trifft das zu, da begegnete man mir mit Skepsis und dem Vorbehalt, ich würde ja alles verzerrt wiedergeben. Aber viele reagierten auch offen auf meine Anfrage, an einer Gruppendiskussion teilzunehmen. Die wollten ihre Perspektive darlegen, auch weil sie sich von den Medien missverstanden fühlten.

In der Bewertung einer Sache stecken auch Emotionen darüber drin, was wir mögen, ablehnen, was uns Angst macht, uns verletzt. 

Aletta Diefenbach

Zudem habe ich an Ortsgruppen geschrieben oder bereits interviewte AfD-Bundestagsabgeordnete gefragt, ob ich in ihren Wahlkreisen eine Gruppendiskussion durchführen könnte. Neben Berlin kamen die Teilnehmer auch aus dem Ruhrgebiet, Ost- und Süddeutschland.

Und wie stellen sie die Runden zusammen, um daraus Rückschlüsse auf die politische Kultur zu ziehen?
Ich wählte Gruppen nach Kriterien aus, die für meine Frage nach der Rolle von Religion für eine kollektive Identität der Neuen Rechten wichtig sind. Also: Welche Gemeinsamkeiten findet man über Organisationen hinweg? Gibt es Ost-West-Unterschiede, welche Bedeutung haben Konfessionen?

Die Diskussionen fanden dann in ganz unterschiedlichen Konstellationen statt: Bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer, im Stammlokal der Ortsgruppen oder in Parteiräumlichkeiten. Da saß ich mit vier oder bis zu 13 Teilnehmenden, in der Mitte ein Aufnahmegerät.

Aber ist das bei der eher kleinen Menge an Fallbeispielen am Ende auch repräsentativ?
In der qualitativen Sozialforschung geht es nicht um statistische Repräsentativität, also etwa darum Position A zu Position B in ein zahlenmäßiges Verhältnis zu setzen. Es geht darum, was typisch für ein Milieu ist. Nach dem ersten Interview schaut man sich Argumentationsmustern an oder Hinweise darauf, inwiefern Bildung oder Alter eine Rolle spielen. Dann fragt man, was wäre jetzt ein Kontrastfall zu dem entdeckten Zusammenhang und versucht diesen, in weiteren Interviews zu finden, so lange bis inhaltlich nichts signifikant neues mehr dazu kommt.  

Auch in der Wissenschaft setzt sich zum Teil der Trend fort, bestimmte Bereiche als emotionslos zu bezeichnen, um sie vernünftiger erscheinen zu lassen. 

Aletta Diefenbach

Wollen wir unseren Aussagen in einer Debatte Nachdruck verleihen, verkaufen wir sie gern als „sachliches Argument“ oder „nüchternen Blick“. Ist eine so geframte Rede frei von jeder Emotionalität?
Nein, natürlich nicht! Jeder vermeintlich nüchterne Blick hat eine affektive, also gefühlsgefärbte, Grundierung. Niemand kann sich frei von Emotionen machen, vielmehr verbinden sie uns mit der Welt und den anderen. Doch unsere Kultur vermittelt: In der Politik haben Emotionen nichts zu suchen. Jeder beansprucht in Diskussionen für sich, das sachliche Argument zu haben, um rational und souverän zu wirken. Nur stecken auch in der Bewertung einer Sache Emotionen darüber drin, was wir mögen, ablehnen, was uns Angst macht, uns verletzt.

Also wäre das im Kontext von Migration: Diskutieren wir über Abschiebungen oder Grundlagen für Integration?
Genau. Und der affektsoziologische Ansatz ist, finde ich, für die Analyse politischer Rede enorm wichtig. Denn er berücksichtigt, wie unterschiedlich sie vorgetragen wird und wirken kann. Was der eine als sachliche Problemlösung – zum Beispiel Abschiebungen – beschreibt, kann jemand anders als hochgradig problematisch und verletzend empfinden. Ein sachliches Argument kann ich euphorisch, voller Emotionen vortragen, eine völlig falsche Behauptung wiederum ganz trocken.

Würde es der Diskussionskultur trotzdem helfen, die Emotionen weitgehend rauszuhalten?
Einerseits ja, man muss sich schon regulieren können und vor allem bei der Wahrheit bleiben. Aber natürlich besteht Politik aus Emotionen. Ohne Gefühl von Unrecht oder Ermächtigung funktioniert sie nicht – das löst ja aus, dass man teilhaben oder etwas verändern will.

Wenn man im politischen Streit allerdings jemandem vorwirft, seine Rede sei emotional oder zu subjektiv, muss man sich klar machen, dass dies als Abwertung aufgenommen werden und den Austausch verhindern kann. Manchmal könnte helfen, zu erwidern: Warum glaubst du das denn? Vielleicht stimmt das gar nicht.

Man kann auch auf Unterschiede hinweisen: Diese Idee von Demokratie ist völkisch, das andere ist ein liberales Demokratieverständnis.

Das liberale Selbstverständnis, schreiben Sie in einem Aufsatz, habe allerdings auch einen blinden Fleck …
Ja, auch in der Wissenschaft, die sich darauf beruft, setzt sich zum Teil der Trend fort, bestimmte Bereiche als emotionslos zu bezeichnen, um sie vernünftiger erscheinen zu lassen. Zum Beispiel wird in der politischen Analyse ein Gegensatz aufgetan zwischen einer affektfreien liberalen Tradition und einem affektgetriebenen völkischen Denken.

Doch auch der Liberalismus hat seine Gefühlswelt: Man fühlt sich angezogen von einem Gemeinsinn, der die Freiheit der Einzelnen erlaubt, man wertschätzt Toleranz und Gleichheit vor dem Gesetz und missbilligt eine fraglose Autorität von Traditionen.    

Braucht es am Ende den Gegner in politischen Debatten, damit Solidarität entsteht?
Nicht unbedingt. Beziehungsweise interessiert mich hier eher die Frage, wie wir uns zu dem Antagonismus in der Gesellschaft verhalten, auf welche Weise wir die Grenze zum anderen Lager ziehen.

Politischen Streit gab es schon immer, allerdings sehen wir, dass die Emotionen bei manchen Grenzziehungen heftiger und ablehnender geworden sind. Dabei muss Abgrenzung ja nicht notwendigerweise mit der Herabwürdigung des anderen einhergehen. Ich kann die Differenz auch erdulden, ihr gegenüber gleichgültig oder auf sie neugierig sein.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Comments (3)
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  • Franziska Müller

    Ich finde es faszinierend, wie die Berliner Soziologin Frau Diefenbach tiefe Einblicke in die emotionale Welt politischer Debatten gibt. Ihre Forschung zeigt, dass politische Forderungen und Schlagzeilen tief verankerte Werte in uns berühren und uns zu heftigen Reaktionen wie Entrüstung oder Wut führen können. Wir alle sollten mehr darüber nachdenken, wie Emotionen und Argumente im politischen Diskurs zusammenwirken.

  • AnnaMüller

    Warum können uns bestimmte politische Forderungen oder Schlagzeilen so berühren, dass wir Entrüstung oder Wut empfinden?

  • Anna Mayer

    Als Soziologin bin ich fasziniert von der Erforschung der Emotionen in politischen Debatten. Frau Diefenbachs Studien zeigen, wie tief sitzende Werte und Weltsichten unser Empfinden von Entrüstung und Wut beeinflussen. Es ist wichtig, das Zusammenspiel von Emotionen und Argumenten besser zu verstehen. Ihre Beobachtungen von Gruppendiskussionen mit Anhängern der AfD und Pegida sind äußerst aufschlussreich.