Auf dem zweiten Bildungsweg: Mit Lust und Leidenschaft für die deutsche Nationalmannschaft

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Auf dem zweiten Bildungsweg: Mit Lust und Leidenschaft für die deutsche Nationalmannschaft

Bundestrainer Julian Nagelsmann beschreitet bei seiner Personalauswahl ungewohnte Wege. Das ist schlecht für manch einen Etablierten, aber gut für den Hunger im Team.

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Hinter Timo Werner liegt ein halbwegs erfolgreiches Wochenende. Zumindest für seine aktuellen Verhältnisse. Der Stürmer aus Deutschland durfte am Sonntag bei Tottenham Hotspur wieder von Anfang an spielen, nachdem er erst eine Woche zuvor sein Startelfdebüt in dieser Saison gefeiert hatte.

Damit allerdings erschöpften sich die guten Nachrichten für den inzwischen 28 Jahre alten Ex-Nationalspieler auch schon wieder. Werner, der in dieser Saison auf exakt null Tore und null Vorlagen in der Premier League kommt, wurde zehn Minuten vor Schluss ausgewechselt, Tottenham verlor 2:3 bei Brighton & Hove Albion.

Für Werners Altersgenossen Leon Goretzka und Niklas Süle läuft es derzeit auch nicht besser. Der Dortmunder Süle saß bei den jüngsten drei Pflichtspielen seines Klubs auf der Bank, nur gegen den VfL Bochum durfte er ein paar Minuten mitspielen. Goretzka wiederum ist beim FC Bayern in sechs Bundesligaspielen erst einmal eingewechselt worden – in der 90. Minute.

6Spieler ohne Länderspieleinsatz stehen im 23-Mann-Kader von Julian Nagelsmann

Werner, Süle und Goretzka gehören zu einer Generation, der einmal nicht weniger als die Rettung des deutschen Fußballs zugetraut wurde. Sie sind 1995 oder 1996 geboren. So wie auch Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Leroy Sané oder Julian Brandt.

Im Juni 2018, wenige Tage vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland, saß Joshua Kimmich, der inoffizielle Klassensprecher seiner Generation, in einem Kinosaal in Watutinki und berichtete vor der internationalen Presse von frühen Erfolgen seines Jahrgangs. In der Jugend, so erzählte er, habe man nicht nur so gut wie jedes Turnier gewonnen, Timo Werner sei auch immer Torschützenkönig geworden.

In Russland kam es anders: Die Deutschen schieden bei der WM als Titelverteidiger schon in der Vorrunde aus, und Werner erzielte kein einziges Tor.

Was das mit der aktuellen Nationalmannschaft zu tun hat? Nicht mehr viel. Von den einst Hochgelobten hat Bundestrainer Julian Nagelsmann nur Kimmich und Gnabry für die beiden anstehenden Nations-League-Spiele an diesem Freitag in Zenica gegen Bosnien-Herzegowina und am Montag in München gegen Holland berufen.

Gnabry ist erstmals seit der Niederlage gegen Österreich im November vergangenen Jahres wieder dabei. „Er hat es geschafft, sich zu stabilisieren, was seine körperliche Verfassung angeht, aber auch seine Leistungsfähigkeit“, sagt Nagelsmann, der vor einem Jahr sein Debüt an der Seitenlinie gefeiert hat und für den das Geburtsjahr offenbar keine Rolle spielt. In seinem aktuellen Aufgebot tummeln sich eine ganze Menge Spieler, die gewissermaßen auf dem zweiten Bildungsweg in die Nationalmannschaft gefunden haben und nicht den normierten Karriereweg hinter sich haben. Was sie mitbringen, ist nicht ein legendärer Ruf, sondern viel Biss.

Das gilt:

  • für Maximilian Mittelstädt, der noch 2023 mit Hertha BSC aus der Bundesliga abgestiegen ist.
  • für seinen Stuttgarter Kollegen Deniz Undav, der mit 23 für den SV Meppen in der viertklassigen Regionalliga gespielt hat.
  • für Robert Andrich, der sich über die Dritte und Zweite Liga nach ganz oben arbeiten musste.
  • und auch für Pascal Groß, der zwar in England über viele Jahre stabile Leistungen abgeliefert hat, in seiner Heimat aber weitgehend ignoriert wurde.

Hinzu kommen zum Teil blutjunge Spieler wie der diesmal nicht nominierte Maximilian Beier, 21, Aleksandar Pavlovic, 20, oder die Supertalente Florian Wirtz, 21, und Jamal Musiala, 21.

Robin Gosens ist nachnominiert worden

Dass bei der Nationalmannschaft nach bleiernen Jahren voller Misserfolge zuletzt wieder Lust und Leidenschaft zu spüren waren, hängt eng mit Nagelsmanns Personalauswahl zusammen. Selbst jetzt, nach diversen Ausfällen, hat der Bundestrainer nicht etwa auf die üblichen Verdächtigen wie Emre Can oder Julian Brandt zurückgegriffen, sondern Jonathan Burkardt (Mainz 05) und Jamie Leweling (VfB Stuttgart) nachnominiert, die bisher noch kein Länderspiel bestritten haben.

Eine Ausnahme ist Robin Gosens, der den verletzten David Raum ersetzt. Der Linksverteidiger hat schon unter Joachim Löw in der Nationalmannschaft debütiert, ist mit seinem Werdegang aber eigentlich ein typischer Nagelsmann-Spieler. Gosens hat nie in einem Nachwuchsleistungszentrum gespielt und sich erst über Auslandsstationen in Holland und Italien für höhere Weihen empfohlen.

Für Gosens war die Nationalmannschaft immer das Höchste, genau wie für Niclas Füllkrug, der erst mit 29 sein Debüt gefeiert hat. Der Mittelstürmer wirkt manchmal mehr wie ein Fan der Nationalmannschaft und nicht wie ein Spieler.

Füllkrug fehlt diesmal verletzt, wird aber von jemandem ersetzt, der einen ähnlichen Werdegang hinter sich hat. Tim Kleindienst, im Sommer zu Borussia Mönchengladbach gewechselt, hat noch vor 17 Monaten mit dem 1. FC Heidenheim in der Zweiten Liga gespielt. Entsprechend euphorisch hat er auf seine erstmalige Nominierung reagiert. „Es gibt fast nichts Schöneres, als das erleben zu dürfen“, hat er gesagt.

Tim Kleindienst ist übrigens Jahrgang 1995.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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