„Das Columbia-Unglück im Hinterkopf“: Astronaut Thomas Reiter über die Ausnahmesituation auf der ISS

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„Das Columbia-Unglück im Hinterkopf“: Astronaut Thomas Reiter über die Ausnahmesituation auf der ISS

Zwei Menschen müssen derzeit ungeplant monatelang im All bleiben. Es gibt nur wenige, die mit einer solchen Lage Erfahrung haben. Mit einem haben wir gesprochen.

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Eine Astronautin und ein Astronaut, die eigentlich nur eine Woche bleiben sollten, sitzen auf der Internationalen Raumstation, die derzeit eine Langzeitbesatzung mit sieben Crewmigliedern hat, fest. Denn ob das von Boeing gebaute Raumschiff, mit dem sie dort angedockt haben, sicher genug für eine Rückkehr ist, ist unklar. Helium-Lecks und ausgefallene Triebwerke sind die Hauptprobleme. Möglicherweise müssen Sunita Williams und Butch Wilmore nun warten, bis 2025 das nächste Raumschiff zur ISS kommt, gebaut von der Konkurrenz von Elon Musks SpaceX. Die Nasa will am Samstag eine Entscheidung bekanntgeben. Wir haben mit einem der erfahrensten deutschen Astronauten über die Situation gesprochen: Sind die beiden überhaupt fit für einen so langen Aufenthalt? Gibt es genug Vorräte? Was machen sie jetzt? Und was bedeutet der Pannenflug für den ohnehin strauchelnden Boeing-Konzern?

Herr Reiter, der Freund meines zehnjährigen Sohnes fragt, ob man im Weltraum Eis essen kann.
Na klar. Aber es gibt da halt keine Eisdielen.

Reichen die Eisvorräte, und die sonstigen Vorräte, jetzt aus, um die beiden zusätzlichen Crewmitglieder, die wegen der Probleme mit der Starliner-Kapsel nun unverhofft einen Langzeitaufenthalt haben, mit durchzubekommen?
Wegen der Probleme mit den Space Shuttles, derentwegen der Betrieb teilweise lange stillstand, ist dort jetzt alles so ausgelegt, dass es einen Vorrat an allen Ressourcen von Lebensmitteln bis Sauerstoff gibt, der es der Crew erlaubt, dort ohne Versorgung von der Erde mindestens ein halbes Jahr lang zu überleben.

Sind die beiden Astronauten Sunita Williams und Butch Wilmore, die ja nur acht Tage bleiben sollten, auch auf einen so langen Aufenthalt vorbereitet? Sind die genauso trainiert und getestet wie jemand, für die oder den ein halbes Jahr im Orbit eingeplant ist?
Für einen Langzeitaufenthalt ist die Vorbereitung schon eine andere. Und sie ist auf die Aufgaben und den Arbeitsablauf des jeweiligen Astronauten oder der Astronautin abgestimmt. Zusätzlich werden alle denkbaren Reparaturen und Wartungsarbeiten intensiv eingeübt. So eine Vorbereitung dauert 18 Monate. Aber beide waren ja schon für längere Aufenthalte oben. Sunita Williams zum Beispiel hat mich 2006 auf der ISS abgelöst, insgesamt hat sie etwa ein Jahr im All verbracht.

Sie sind einer der wenigen Astronauten, die Erfahrungen mit unvorhergesehenen monatelangen Überstunden im Orbit haben …
Ja, das war 1995 bei der Euromir-Mission. Ich sollte drei Monate auf der „Mir“ bleiben, das hat sich aber um anderthalb Monate verlängert.

Gab es damals genug zu essen und zu atmen?
Ja, eine mögliche Verlängerung war schon vor dem Start erwogen worden. Für mich war sie sehr willkommen. Ich hatte ein umfangreiches Programm von 41 Experimenten. Bezüglich der Wissenschaft war es eine tolle Sache, Experimente wiederholen zu können oder sie mit neuen Parametern zu variieren.

Andere Zeiten: Thomas Reiter (rechts) an Bord der Mir 1995 mit seinen Roskosmos-Kollegen. Reiter spricht fließend Russisch.

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Nennen Sie mal ein Beispiel.
Wir haben Experimente mit einem neuen so genannten „Respiratory Monitoring System“ gemacht. Damit konnte man so genau wie nie zuvor die Funktion von Herz und Lunge und den Blutfluss durch das Herzlungensystem über den gesamten Weltraumaufenthalt hinweg überwachen. Bei einem anderen ging es um die Demineralisierung der menschlichen Knochen unter Schwerelosigkeitsbedingungen. Für beides haben wir sechs Wochen mehr Messpunkte bekommen. Das waren wertvolle Daten, denn es ging ja um die Frage, was konkret im Körper bei Langzeitaufenthalten im All passiert.

Können Williams und Wilmore dort jetzt auch Aufgaben übernehmen?
Sie können den anderen sicher wunderbar zur Hand gehen. Und bei medizinischen Experimenten ist es immer gut, mehr Testsubjekte zu haben. Der Arzt Mike Barratt gehört ja zur Besatzung. Der hat sicher gesagt: Wunderbar! Seid ihr bereit, an dem und dem Experiment teilzunehmen? Aber ich glaube, sie sind derzeit hauptsächlich mit der Analyse der Daten des Starliner-Raumschiffes beschäftigt. Die beiden kennen die Kapsel in- und auswendig und müssen nun analysieren, ob sie sicher ist.

Sicher genug, um selbst damit wieder lebend auf der Erde anzukommen … Was für ein Job! Werden die beiden aufgrund ihrer besonderen Situation psychologisch betreut?
Es gibt für alle Besatzungsmitglieder so genannte „private medizinische Konferenzen“ mit Ärzten auf der Erde. Da hat man auch die Möglichkeit, vertraulich mit psychologischen Betreuern zu sprechen.

Die Kapsel hat Helium-Lecks, Steuertriebwerke sind ausgefallen. Die Raumfähre Columbia hatte 2003 auch bekannte technische Probleme, aber die Astronauten wurden mit ihr zur Erde zurückgeschickt. Alle sieben starben.
Das Columbia-Unglück spielt im Hinterkopf sicher eine Rolle. Sollte Boeing entscheiden, die beiden an Bord des Starliner zur Erde zurückzuschicken und es würde schiefgehen, wäre das natürlich eine absolute Katastrophe.

Boeing hat den Starliner gebaut. Kann die Firma wirklich auch diese Entscheidung selbst fällen?
Die Nasa hat das letzte Wort. Aber die Herstellerfirma macht die Analysen, muss das Risiko bewerten und muss ein Ergebnis vorlegen.

Starliner ist eine von derzeit zwei für bemannte Flüge zur ISS geeigneten neuen US-Kapseln, beide von kommerziellen Anbietern. Kommen Ihnen Zweifel am Outsourcing dieses Schlüsselbereiches der bemannten Raumfahrt?
Man muss auch den Erfolg von SpaceX sehen, der gibt dem ja recht. Mit Boeing und SpaceX zwei Firmen zu beauftragen, da steckte der Wunsch dahinter, funktionelle Redundanz zu haben. Aber Boeing hat nicht nur in der Raumfahrt Probleme, und es wird die Frage kommen, ob die in dem Programm drinbleiben.

Es wird ja weitere Testflüge geben müssen, die nicht in den Verträgen stehen. Da ist dann auch die Frage, wer die bezahlt. Und wenn die Astronauten nach weiteren Monaten mit einem anderen Schiff zurückkehren und deshalb zwei von der geplanten Besatzung am Boden bleiben müssen, verursacht das auch Kosten und geplante Experimente können nicht gemacht werden. Es kann durchaus sein, dass irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem die Nasa sagt: Nö.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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