Eckhart Nickel im Interview: „Ich empfinde Schreiben als absoluten Punk-Moment“

© picture alliance/dpa/Georg Wendt

Eckhart Nickel im Interview: „Ich empfinde Schreiben als absoluten Punk-Moment“

Ein Roman basierend auf den sprichwörtlichen drei Akkorden? Geht das? Der Popliterat hat es in seinem neuen Buch ausprobiert.

Von

Herr Nickel, Sie sind als Popliterat und Mitglied der „Tristesse-Royale“-Runde im Adlon zusammen mit Christian Kracht bekannt geworden, Ihr neuer Roman aber heißt „Punk“, nicht Pop. Warum?
Pop ist schön und gut. Aber Punk ist einfach das noch bessere Wort. Und die vielleicht noch bessere Idee. Das mag Geschmackssache sein, Frage der Einstellung. Aber es gibt viele Überschneidungen zwischen Punk und Pop. Und Punk ist im Grunde eine Pop-Idee, der Style und die Haltung waren mindestens so wichtig wie die Musik.

Was war die Grundidee des Romans, worin liegt sein Ursprung?
Bei mir steht am Anfang immer der erste Satz. Auf den baut sich alles andere auf, dann kann es losgehen …

… so wie bei Ihrem Roman „Hysteria“ der berühmte Satz „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht“ …
… genau. Dieses Mal war der erste Satz „Ganz harte Tür“, auch wenn der jetzt erst im zweiten Kapitel kommt. Aber mit diesem Satz hebt die Handlung der erzählten Gegenwart an. Das war der Urknall des Romans: ein Satz mit drei Worten. Die sprichwörtlichen drei Akkorde, die genügen, um Punk zu machen. Was verbirgt sich hinter diesen drei Worten? Das wollte ich wissen. Was kommt, wenn man damit ein Buch beginnt?

Es kommt die Geschichte einer jungen Frau, die sich bei einem seltsamen Brüderpaar bei einer Wohnungsbesichtigung vorstellt und dann von den beiden für ihre Band als Sängerin gecastet wird, eine Band, die PUNK heißt, in Großbuchstaben. 
Genau! Hinter der harten Tür dieser Wohnung lauert der Punk. Es gibt eine kurze Szene im Buch, da beklagt die Erzählerin, wie schwer es ist, adäquat über Musik zu schreiben, und was für eine Herausforderung es darstellt, Musik in Worte zu fassen. Das ist für mich als pop- und musiksozialisierten Schriftsteller ein Ur-Anliegen. Dieser Aufgabe wollte ich mich stellen. Der andere Reiz war meine Musikbiografie und ihre Folgen.

Wenn ich heute ein Album wie „Entertainment“ von Gang of Four höre, haut mich das genauso um wie damals beim ersten Mal auf dem Plattenspieler. Da steckt so viel positive Gewalt drin, es ist eine Wahnsinnsenergie in dieser Musik. Das hatte ich im Kopf als Idee: Wie lässt sich eine derartige Musik in ein Buch einschreiben, sodass sie über allem klingt und schwebt, das hat mich beschäftigt.

So soll Literatur doch sein: ein unendlicher Schatz, der aus Sinnstiftung besteht.

Eckhart Nickel

„Punk“ wirkt passagenweise wie ein sentimentaler Erinnerungsroman, hat aber das Gewand einer Dystopie bekommen.
Ja, stimmt. Natürlich ist auch naive Sentimentalität darin, so einen Roman zu schreiben. Ich habe dafür sogar auf Einträge aus meinem allerersten Notizbuch zurückgegriffen. Aber die Erzählzeit ist reine Gegenwart. Das Dystopische ist in meiner Trilogie wesentlicher Bestandteil. In „Hysteria“, „Spitzweg“, und jetzt auch in „Punk“. In allen Büchern geht es um die besondere Zeit im Leben, in der man mit absolut ungebremster Begeisterung Dinge entdeckt. Sie beginnt im Alter von 16, 17 Jahren und reicht bis in die späten Zwanziger. In „Hysteria“ geht es um die Natur, um den Widerspruch von Kunst und Natur, „Spitzweg“ handelt von der Entdeckung der Kunst als Spiegel des Lebens, und jetzt, als Finale der Trilogie, geht es um die Musik als Lebensretter, um Pop, der in diesem Alter so relevant ist. Es geht um Welterschließung.

Erinnerungsroman und Dystopie können eigentlich gegensätzlicher nicht sein.
Es ist ja eine magische Zone, fast außerhalb unserer Realität. Das alles soll und darf vom Zeitgefühl her so verschachtelt sein wie ein Lieblingsformat meiner Kindheit: „Es geschah übermorgen“. Das waren französische Sci-Fi-Mysterien weit vor Punk, Anfang der 70er Jahre. Ich war damals gleichermaßen verunsichert wie begeistert von dem Titel. Zukunft? Vergangenheit? Was geschieht da eigentlich?

Sie waren damals gerade einmal sechs, sieben Jahre alt und haben sich darüber schon Gedanken gemacht?
Ich habe es nicht ganz begriffen, aber gerade das hat mich nicht losgelassen. Ich weiß von meinen Eltern, dass sie mir die Serie dann verboten haben nach einer Folge, in der es eine sogenannte Zeitsackgasse gab. Diese Zeitsackgasse hat mich so verstört, dass ich nicht mehr einschlafen konnte oder mitten in der Nacht weinend aufgewacht bin. Denn ich ahnte irgendwie: Das ist ein Bild für den Tod.

Warum haben Sie eine weibliche Erzählerin gewählt, Karen?
Meiner Ansicht kommt die weibliche Perspektive in der Literatur häufig zu kurz, gerade wenn es um Punk oder Pop geht. Dabei sind Frauen oft entscheidend für eine Band: Was wären die Talking Heads ohne den Bass von Tina Weymouth? Die B-52s ohne die Orgel von Cindy Wilson? New Order ohne Gillian Gilbert oder Young Marble Giants ohne die mir so ans Herz gewachsene Allison Statton? Stereolab ohne Laetitia Sadier? Die Liste ist endlos.

„Punk“ erscheint am 29.8.24 bei Piper.

© Piper Verlag

Könnte es nicht auch sein, dass Sie nur deshalb eine Erzählerin gewählt haben, weil einer Ihrer Lieblingssongs von den Go Betweens ist und „Karen“ heißt?
Natürlich! Ich habe meine musikalische Heldin einfach in eine literarische verwandelt. So was macht einen jungen, nach Orientierung suchenden Menschen doch froh, wenn er wie in diesem Song von einer Bibliothekarin in einem Song Hemingway, Joyce, Chandler oder Brecht nahegebracht bekommt.

Ist die Popliteratur jetzt feministisch geworden? Bei Benjamin v. Stuckrad-Barre und seinem letzten Buch „Noch wach“ hatte man da ja auch schon den Eindruck.
Das klingt jetzt wie Quatsch, ich sehe das aber anders. Mir geht es eher darum, in Erinnerung zu bringen, dass Punk nicht allein eine Idee von Malcolm McLaren war, sondern genauso von Vivienne Westwood. Die fällt nur meistens hinten runter, weil sie in die Mode-Ecke gestellt wird. Dabei war sie entscheidende Inspiratorin, sie hatte meines Erachtens viel mehr Einfluss, als gemeinhin angenommen wird. Deshalb habe ich auch ihr Eingangszitat gewählt, „The young need discipline and a full bookcase“, das zeigt viel von ihrer nicht berücksichtigten Seite.

Die Sex Pistols waren bekanntermaßen auch ein Modeprojekt, also Pop.
Absolut. Westwood war das stilistische Mastermind. Eine weibliche Erzählerin stellt daher für mich keine Anbiederung an irgendeinen Zeitgeist dar. Schriftstellerinnen waren für mein Lesen und Schreiben von Beginn an zentral. Donna Tartt zählt zu meinen großen Heldinnen, und meine erste große Leidenschaft war Agatha Christie, logischerweise folgte Patricia Highsmith, danach Barbara Vine alias Ruth Rendell. Vine ist das Pseudonym, unter dem sie geniale psychologische Kriminalromane schrieb, sogenannte Whydunnits. Alle drei sind große Vorbilder für die Art, in der ich Geschichten gerne aufbaue, weil ihr großes Movens das Unheimliche ist.

Warum ist Ihre Sprache so artifiziell? Sie schreiben Sätze, die etwas gewunden sind, etwas Thomas-Mann-Haftes haben, Kunstsätze geradezu.
Ist sie das? Karen ist doch eher flapsig und sehr launisch, fasst sich auch gerne mal kurz. In „Punk“ sind es vor allem die Gebrüder, die Ezra und Lambert heißen, die so reden. Aber das sind Freaks. Das ist ja der ganz besondere Reiz ihrer Sprachkaskaden, dass man durch sie erst den Weg findet in die Gehirne dieser Figuren; auch wenn sich der Leser zusammen mit Karen da schon mal kurzfristig verlieren kann. Deshalb sind die Dialoge von Lambert und Ezra oft eher Mono als Stereo. Die Brüder deklamieren, weil sie ein großes Mitteilungsbedürfnis haben. Das ist doch auch unter Pop-Nerds so: Trifft man auf Gleichgesinnte, wird ein harmloses Gespräch gerne mal ein Austausch von Gottesbeweisen mit Herleitungen, bei denen es um die Weitergabe von druidenartigen Erkenntnissen und Stileinsichten geht. In „Punk“ ist es ein Überbietungswettbewerb für Karen, die im Gegenzug kaum erwarten kann, die beiden mit ihrem Geheimwissen auszustechen.

Haben Sie keine Angst, es mit dem eigenen Geheimwissen übertrieben zu haben? Allein die Kapitelüberschriften bestehen aus Songtiteln, von „Part Time Punks“ (Television Personalities) bis zu „Rickys Hand“ (Fad Gadget) und „Final Day“(Young Marble Giants).
Das sind natürlich Fährten für Jäger und Sammler, die man gerne auslegt! Und jeder Song hat eine Vielzahl an Bezügen zu den gleichnamigen Kapiteln. So soll Literatur doch sein: ein unendlicher Schatz, der aus Sinnstiftung besteht. 

Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, ein Pop-Nostalgiker zu sein?
Das kratzt nicht an meiner Ehre. Für mich sind die späten 70er und frühen 80er Jahre zentral als Epoche. In dieser Zeit schien so viel Neues auf, das, wie es heißt, „seither nicht aufhört zu beginnen“. Deswegen habe ich sie musikalisch zum Zentrum meines Romans gemacht. Das Interessante an Punk ist doch, was danach kam: Postpunk. Der frühe Punk war wenig spannend: immer gleich monoton, gleich laut, drei Akkorde, fertig. Aber dann kamen die Young Marble Giants, Devo, Siouxsie and the Banshees, Fad Gadget oder Gang of Four. Das war zwar immer noch Punk im Sinne von Do-It-Yourself, aber das wurde hier in etwas viel Spannenderes und Intelligenteres verwandelt.

Danach kam für Sie nichts mehr?
Nicht viel jedenfalls. O.k.: Daft Punk, Franz Ferdinand, Vampire Weekend … Aber viel wichtiger ist doch, was die Zeit mit mir gemacht hat. Was habe ich persönlich daraus gezogen? Vielleicht meine Grundeinstellung: das leicht irre Lachen von Johnny Rotten zu Beginn von „Anarchy in the U.K.“, mit dem man dem Wahnsinn der Welt in jeder noch so komplizierten Situation begegnen kann, ohne selbst verrückt zu werden. Ein permanenter Schalk im Nacken, weil letzten Endes nur Humor die Welt erträglich macht.

Aber es geht auch um Destruktion und Dekonstruktion. Das Infragestellen von allem Grundzweifel an Regeln und Normen. Im Roman gibt es Tee mit Keksen nicht nachmittags, sondern um Mitternacht zur Geisterstunde. Wie von Dada wird die Welt auf den Kopf gestellt. Das Cover wird vor der Platte selbst produziert. Bei J.D. Salinger besteht der unantastbare Kern der Seele darin, nie erwachsen werden zu wollen, weil altkluge Kinder regieren. Tears for Fears singen: „I hope we live to tell the tale“. Das gilt auch für mein Schreiben.

Punk ist im Grunde eine Pop-Idee, der Style und die Haltung waren mindestens so wichtig wie die Musik.

Eckhart Nickel

Und, was sind Sie nun für ein Mensch geworden?
Einer, der nie aufgibt und nicht aufhört, das Leben neugierig mit den staunenden Augen eines rebellischen Kindes zu betrachten. Als Mischung aus, wie die frühen Fehlfarben singen, „Abenteuer und Freiheit“. 

Gibt es heute noch so Typen wie Karen, Ezra und Lambert?
Ich denke doch. Meine Patentochter Lola ist genauso alt wie Karen und hat sich beim Lesen gleich mit ihr angefreundet. Die Botschaft des Romans: Es kommt wirklich nur darauf an, es zu machen und einfach Dinge auszuprobieren. Was gibt es Besseres, als eine Gitarre in die Hand zu nehmen und mal zu schauen, zu hören, was so passiert? Über die Imitation zu etwas Eigenem kommen, darum geht es. Und das haben wir den Punk-Jahren voraus: Man hat Zugriff auf die gesamte übrige Zeit, alles ist archiviert und abrufbar. 

Sind Sie so auch Schriftsteller geworden? Es einfach machen?
Klar, weil Punk wie jedes gute Stück Literatur einfach eine geniale Erfindung war, von Vivienne und Malcolm eben. Deswegen empfinde ich Schreiben als absoluten Punk-Moment. Max Frisch lässt seinen Gantenbein sagen: „Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ In dieser literarischen Umkleidekabine auf der King’s Road 430 im Laden von Vivienne Westwood, wenn es denn überhaupt je eine Umkleidekabine dort gab, bin ich für immer zu Hause.

Zur Startseite

showPaywall:falseisSubscriber:falseisPaid:showPaywallPiano:false

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Comments (0)
Add Comment