Ein toxischer Haufen namens X: Gibt es ein richtiges Leben auf der falschen Plattform?

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Ein toxischer Haufen namens X: Gibt es ein richtiges Leben auf der falschen Plattform?

Elon Musk hat Hass und Hetze auf X kultiviert. Trotzdem agieren dort immer noch viele Vernünftige. Dafür haben sie gute Gründe.

Eine Kolumne von

Neulich gab es einen weiteren Exodus: 51 deutsche Organisationen verkündeten zeitgleich, ihre Nutzerkonten auf der Plattform X stillzulegen. Das dortige Ausmaß an Hetze und Desinformation sei nicht mehr zu ertragen. Unter den Tschüsssagern befanden sich die Kindernothilfe und Terre des Hommes Deutschland.

Dieser Rückzug ist nachvollziehbar. Aber nicht alternativlos.

Zwar wurde das Gemisch aus Hass, Falschinformationen und Trolltum in den vergangenen Monaten noch einmal giftiger. Mittlerweile darf man froh sein, wenn ein Post, der einem in die Timeline gespült wird, bloß billige Polemik enthält und nicht einen Mordaufruf oder Holocaustleugnung. Dennoch harren viele Vernünftige weiter auf X aus. Andere sind sogar zurückgekehrt, nachdem sich ihre anfängliche Hoffnung, X durch Kollektivflucht in den Ruin zu treiben, nicht erfüllte.

Standhalten auf X als Akt der Zivilcourage

Elon Musk hat Hass und Hetze auf dieser Plattform nicht erfunden. Er hat sie nur kultiviert. Durch Wegschauen, bewusstes Zulassen und auch eigenes Befeuern. Zum Beispiel durch das Freischalten vormals blockierter Hassaccounts. Oder das Entlassen von Mitarbeitern, deren Aufgabe es war, Hassnachrichten zu löschen. Oder durch seinen offenen Zuspruch für Rechtsradikale, getarnt als Kampf für Meinungsvielfalt.

Viele Nutzer bleiben dennoch aktiv, weil sie die Plattform und die Reichweiten, die X ermöglicht, nicht kampflos den Demokratiefeinden überlassen wollen. Schon gar nicht angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen und möglicher Regierungsbeteiligungen der AfD. Diese Nutzer begreifen ihr Standhalten auf X als Akt der Zivilcourage und als ehrenamtliches Engagement. Zyniker verspotten sie deswegen. Haha, diese Gutmenschen mal wieder … Ich finde den Ansatz ehrenwert.

Manche haben ihr Glück im konsequenten Wegblocken aggressiver Nutzer gefunden. Andere nehmen sich einen Anwalt und verklagen die Täter. NGOs wie HateAid helfen dabei. Wieder andere versuchen immer noch, auf Augenhöhe mit Demokratiefeinden zu diskutieren – was mir persönlich als der aussichtsloseste Weg erscheint.

Elon Musk wollte Twitter profitabel machen, erreichte jedoch das Gegenteil. Die Werbeerlöse gingen stark zurück, weil seriöse Unternehmen in diesem toxischen Umfeld keine Anzeigen schalten möchten. Musk veranlasste dies bislang nicht zum Gegensteuern. Es machte ihn eher trotzig.

Die Zukunft von X lässt sich nicht vorhersehen, was wiederum vor allem an Musks – jetzt mal sehr wohlwollend formuliert – Sprunghaftig- und Unberechenbarkeit liegt. Außerdem daran, dass massive Erlöseinbrüche einen derart wohlhabenden Mann nicht wirklich schmerzen.

X ist Teil des Debattenraums, in dem sich auch Demokraten bewegen

Möglich also, dass Musk schon morgen die Lust verliert und seine Plattform abstoßen will. Doch genauso gut könnte er X auf ewig als kostspieliges Hobby weiterbetreiben. Sicher ist nur: Derzeit besitzt X noch Relevanz und ist Teil des Debattenraums, in dem sich auch Demokraten bewegen. Dort nicht weichen zu wollen, ist eine ebenso legitime Haltung wie jede individuelle Entscheidung zum Rückzug.

Eine originelle wie konsequente Strategie versucht aktuell Jan Böhmermann. Kürzlich wunderte ich mich über einige seiner Posts, die für böhmermannsche Verhältnisse eher plump daherkamen. Zum Beispiel „Die rechtsextreme AfD ist ein Tool Russlands, aber nicht so schlimm, das Bündnis Sahra Wagenknecht auch“ oder „Die rechtsextreme Mainstreamfunktionärin Alice Weidel aus der Russenpartei AfD hasst Deutschland so sehr, dass sie nicht einmal hier leben möchte?“ oder auch „Seit Italien eine rechtsextreme Ministerpräsidentin hat, performen sie international nicht mehr fußballerisch. Darum: Demokrat*innen wählen!“

Inhaltlich also einwandfrei, aber im Tonfall ungewohnt brachial. Kurz überlegte ich, ob der Mann vielleicht seinen verspielten Witz verloren hat und nun nicht mehr mit dem Florett, sondern dem Holzhammer werkelt. Bis ich begriff, dass die neue Grobheit volle Absicht ist. Er nutzt das Privileg seiner Riesenreichweite mit 2,8 Millionen Followern dafür, Rechtsextremen jeden Tag unmissverständliche Ansagen zu machen und womöglich ein wenig die Laune zu verderben. Und das im Zweifel lieber zu deutlich als zu subtil.

Jan Böhmermann postete dann auch: „Ich denke, ich habe sprachlich, taktisch und inhaltlich einen Weg gefunden, diese räudige rechtsextreme Loserplattform hier weiterhin mit angemessenem Content zu bespielen.“

Das muss nicht für jeden der richtige Weg sein. Aber es ist, glaube ich, ein sehr vielversprechender.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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