Es war einmal ein Großprojekt: Die Kindergrundsicherung ist tot – aber sagen darf das niemand

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Es war einmal ein Großprojekt: Die Kindergrundsicherung ist tot – aber sagen darf das niemand

Lisa Paus ist an ihrem Herzensprojekt, ein eigenes Sozialsystem für Kinder zu schaffen, krachend gescheitert. Es ist das begrüßenswerte Ende eines großen Irrtums.

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Wenn aus ambitionierten Plänen am Ende nichts wird, heißt es oft, jemand sei als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Eine schöne Metapher. Doch für das, was sich rund um die grüne Familienministerin Lisa Paus und die Kindergrundsicherung abspielt, ist sie noch zu klein. Vielleicht ließe sich sagen: Paus ist als Weißer Hai an den Start gegangen und als Goldfisch im Glas auf Christian Lindners Fensterbrett geendet.

Offiziell ist noch nichts, denn eine endgültige Einigung gibt es nicht und wird es vor Ende der Sommerpause auch nicht mehr geben. Doch durch einen Bericht des Nachrichtenportals „t-online“ ist ein belastbarer Zwischenstand in der Welt, und aus der Koalition ist kein Widerspruch zu hören. Es läuft auf Folgendes hinaus: Der große Systemumbau, den die Ampel sich vorgenommen hatte – er wird nicht kommen.

Die Idee war, alle Geldleistungen für Kinder, etwa Kindergeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld, zusammenzufassen und von einer neu aufzubauenden Behörde verwalten zu lassen. Diese Idee ist an der Realität zerschellt. Denn für die Familien, um die es zuallererst geht – jene nämlich, die bisher Bürgergeld beziehen – würde alles nur komplizierter. Es wäre nicht mehr das Jobcenter für alle Familienmitglieder zuständig, sondern die Kinder würden von einer eigenen Behörde versorgt.

Dieses Konstrukt wird der Ampel seit Monaten um die Ohren gehauen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) gelang es, seine Kabinettskollegin mit deren Forderung nach mehr Geld auflaufen zu lassen, denn sie hatte kein tragfähiges Konzept vorzuweisen.

Szenarien bis hin zur Verfassungsänderung kursierten

Dann kam aus dem Familienministerium ein Gesetzentwurf, der erfahrene Parlamentsprofis verzweifeln ließ. Die großen Grundsatzfragen blieben darin ebenso unbeantwortet wie zahllose Schnittstellen- und Detailprobleme. Szenarien bis hin zu einer Verfassungsänderung wurden geprüft, um die Kindergrundsicherung zu retten. Es kursierten zentimeterdicke Papierstapel mit Fragen, die zur Beantwortung ans Ministerium gereicht wurden.

Eine Anhörung von Verbänden geriet zur Generalabrechnung mit einem Projekt, an dem außer den Grünen niemand mehr Gutes fand. Von einer besonnenen Fachfrau aus der Koalition ist zu hören, sie habe in einer der vielen Verhandlungsrunden komplett die Fassung verloren angesichts dieses beispiellosen Desasters.

Wie nur lässt sich eine solche Lage gesichtswahrend auflösen? Gar nicht. Weite Teile der ursprünglichen Pläne finden sich in dem, was sich nun als Lösung abzeichnet, nirgends mehr wieder.

Es sind zwei Komplexe, auf die man sich nun einigen konnte, wie „t-online“ erfahren hat. Zum einen soll es Familien durch ein neues Online-Portal leichter gemacht werden, an Leistungen für Bildung und Teilhabe zu kommen. Da geht es um den Zuschuss zur Klassenfahrt genauso wie um die Gratis-Mitgliedschaft im Fußballverein. Alles, was man hier erreicht, trägt ganz unmittelbar dazu bei, das Leben armer Kinder zu verbessern. Jeder Euro, jede Mühe ist hier bestens investiert.

Auf den letzten Metern ist dazu der charmante Vorschlag aufgetaucht, eine Karte auszugeben, mit der Kinder Leistungen in Anspruch nehmen können. Wer schon einmal ein Grundschulkind gesehen hat, das stolz seinen ersten Schülerausweis in Empfang nimmt, ahnt, dass das eine gute Idee sein könnte.

Zumindest das Online-Portal war von Anfang an Teil des Vorhabens, und insofern wird die Koalition auch versichern können, die Kindergrundsicherung sei nicht komplett gekippt worden. Das Portal ist aber nur ein überschaubares Vorhaben im Vergleich zum ursprünglichen Versprechen, das gesamte System der Sozialleistungen für Kinder neu aufzustellen.

2029Bis zu diesem Jahr will sich das Familienministerium Zeit lassen mit dem neuen Chancenportal

Und zu früh freuen sollte sich auch in Sachen Portal niemand. Das Familienministerium hat sich bei der Umsetzung bisher erschreckend ambitionslos gezeigt. Ein Start des Online-Portals ist bis spätestens 2029 angekündigt. Dass in absehbarer Zeit etwas real an den Start gehen kann, wird das Ministerium erst noch beweisen müssen.

Der zweite Punkt, auf den man sich einigen konnte, ist ein Kinderzuschlags-Check. Dieser richtet sich an Menschen, die nicht auf Bürgergeld angewiesen wird, aber so wenig verdienen, dass der Staat etwas drauflegt.

Schon die vielen Debatten über die Kindergrundsicherung haben dafür gesorgt, dass die Antragszahlen gestiegen sind. Aber noch immer gibt es Familien, die gar nicht wissen, dass ihnen Kinderzuschlag zusteht. Das ändern zu wollen, ist ehrenwert.

5000So viele Stellen in einer neuen Behörde standen zwischenzeitlich zur Debatte

Der Punkt aber ist: Das spielt sich komplett im bestehenden System ab. Damit ist auch die zwischenzeitlich mit Verve geführte Debatte um 5000 oder mehr neue Behördenangestellte nun gegenstandslos. FDP und SPD haben sich durchgesetzt mit der Erkenntnis, dass es keinen sinnvollen Weg gibt, das bestehende, hochkomplexe System der sozialen Sicherung nur für Kinder, nicht aber für deren Eltern vom Kopf auf die Füße zu stellen. Stattdessen wird über den Sommer ausdiskutiert, ob innerhalb der bestehenden Strukturen hier oder da bei der Höhe der Geldleistungen eine Schippe draufkommt.

Es wird keine magische Lösung mehr auftauchen

Ministerin Paus hatte sich einst vorgenommen, die Kinder „aus den Jobcentern herauszuholen“, wie sie zu Beginn ihrer Amtszeit ständig sagte. Gut möglich, dass die Koalition diesen Auftrag in der restlichen Legislaturperiode noch in diversen Arbeitsgruppen von links nach rechts wälzt, um sagen zu können, sie sei weiter dran. Doch wenn sich trotz der übergroßen Mühen, die schon unternommen wurden, bisher keine Lösung finden ließ, dann wird diese im Rest der Legislaturperiode auch nicht mehr auf magische Art und Weise auftauchen.

Paus versuchte im bisherigen Prozess allzu oft, mit Trotz und Starrsinn wettzumachen, was ihr an sachlich fundierten Lösungsideen fehlte. Für sie ist die Kindergrundsicherung zur krachenden Niederlage geworden. Für den Rest der Republik aber ist die stille Kehrtwende, zu der sich die Ampel anschickt, eine gute Nachricht.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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