Putins neue Atomdoktrin: Europa braucht den Schutzschirm

© Reuters/Sputnik/Alexander Kazakov

Putins neue Atomdoktrin: Europa braucht den Schutzschirm

Nukleare Waffen „zur Abschreckung“ – der russische Präsident erweitert seine Optionen zu ihrem Einsatz. Dagegen gilt es, sich zu rüsten. Gemeinschaftlich, am besten mit Briten und Franzosen.

Ein Kommentar von

Wladimir Putin, der dunkle Geist der Weltpolitik – und jeder seiner Gedanken eine Drohung. Schon gar, wenn es um die russischen Atomwaffen geht.

Russlands Atomdoktrin regelt, unter welchen Umständen das Land seine nuklearen Systeme einsetzen würde. Präsident Putin hat sie nun ändern lassen. Und wie!

Die Liste militärischer Bedrohungen, gegen die Atomwaffen „zur Abschreckung“ genutzt werden können, sei erweitert worden, sagte Putin bei einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats im Kreml. Die er auch gleich noch vom Fernsehen übertragen ließ. Der besseren Drohung wegen.

Putin erklärt wörtlich, „dass eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomwaffenstaates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden sollte“. Alle im Westen sollten ihn beim Wort nehmen. Besser wäre es.

Klar, er will damit vermutlich westliche Atommächte, voran die USA, abschrecken, aber es gilt auch allen anderen, die der Ukraine helfen. Das ist nicht zuletzt die Bundesrepublik. Sie wird damit Teil der angespannten internationalen Lage, von der er spricht.

Dass Putin nicht davon spricht, die Atomwaffen auch wirklich einzusetzen, ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass er das tut, was ein KGB-Agent täte: die Moral der Gegner seines Regimes zu zersetzen. Früher waren es einzelne Menschen, heute sind es Staaten. Für ihn gilt, auch im Kreml: einmal Agent, immer Agent.

4380„aktive“ russische Atomwaffen sollen Putin zur Verfügung stehen.

Nach allem, was man weiß, verfügen die Russen über 4380 sogenannte aktive nukleare Systeme. Im zivilen Europa sind es bei den Briten 225 und bei den Franzosen 280, dazu 150 US-Atomwaffen im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ der Nato. Sie lagern in Belgien, Deutschland, den Niederlanden, Italien und der Türkei.

Der russische Präsident lässt – natürlich – offen, ob er auch auf einen Angriff mit konventionellen Waffen atomar antworten könnte.

Stephan-Andreas Casdorff

Der russische Präsident lässt – natürlich – offen, ob er auch auf einen Angriff mit konventionellen Waffen atomar antworten könnte. Aber dafür spricht, dass er quasi jeden Angriff aus der Luft in seine Gegendrohung einbezogen hat.

Nur ein Bluff? Vorsicht! Die größte Atommacht der Welt muss in Hinsicht auf die Nutzung ihres Arsenals per se ernst genommen werden. Ja, oft hat Putin seit Beginn des Angriffskrieges den Einsatz von Atomwaffen öffentlich erwogen; aber dass es bisher nicht geschehen ist, sagt nicht, dass es im Verlauf der Zeit immer unwahrscheinlicher wird.

Flugfelder, Munitionslager und Militärbasen in Russland als ukrainische Ziele

Zumal die Ukraine Ziele wie Munitionslager, Flugfelder und Militärbasen im russischen Hinterland angreift. Bisher hat die Bundesrepublik, hat der Kanzler dazu zwar erklärt, die Angriffen seien durch internationales Recht gedeckt – aber sich zugleich beharrlich geweigert, selbst Waffen längerer Reichweite zu liefern. Eben wegen der Befürchtung, in den Krieg als Nato-Partner verstrickt zu werden.

Ziel muss neben dem US-Schutzschirm ein europäischer sein.

Stephan-Andreas Casdorff

Dieses Rational jetzt aufzugeben, ist zu spät. Es könnte sonst tatsächlich als Eskalation verstanden werden; jedenfalls, wenn man Putins Sicht mitdenkt. Die Ukraine hat Waffen längerer Reichweite; neue und mehr davon sind vor dem Hintergrund nicht gut zu argumentieren. Es wird nicht besser, wenn es die USA tun.

Eine Antwort auf Putin ist trotzdem möglich. Wie? Indem Europa eine Antwort auf den Krieg in Europa gibt. Es wird Zeit, über die Atomwaffen der Briten und Franzosen zu sprechen. Die sind, nach allem, was man hört, dazu bereit.

Ziel muss neben dem US-Schutzschirm ein europäischer sein, durch Absprache von Einsatz und Zielplanung. Eine, sagen wir: vergemeinschaftete Verantwortung als wahrhaft europäischer Pfeiler der Sicherheit – wie ihn sich die Amerikaner seit Kennedy wünschen. Da passt, dass Joe Biden jetzt zu einem Ukraine-Unterstützergipfel nach Berlin einlädt.

Eine coole Antwort, gerade im Gegensatz zu dem, was der Agent im Kreml will. Sein Versuch der Zersetzung kann zu neuer, vertiefter Gemeinsamkeit führen.

Nur schnell muss es gehen, ausnahmsweise. Denn bei Putin kann man nie wissen, wie sehr sich sein Geist noch verdunkelt.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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