© IMAGO/Mika Volkmann
Paralympische Spiele in Paris: War das eine Revolution der Inklusion?
In Paris gehen dieser Tage die Paralympischen Spiele 2024 zu Ende. Über ein Turnier, das Fans begeisterte und sportlich dabei in neue Dimensionen vorstieß.
Ein Kommentar von Vincent Busche
Es trägt eine gewisse Komik in sich, dass die Paralympischen Spiele in Paris, heraufbeschworen als emanzipatorisches Großereignis im Schmuckkästchen von Europa, sich dieser Tage vor allem als Fest des Leistungssports entpuppen. Es ist inzwischen neun Tage her, dass bei der Eröffnungsfeier die „paralympische Revolution“ ausgerufen und zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen übertragen wurde. Da staunte man nicht schlecht, als die Veranstalter am bedeutungsträchtigen Place de La Concorde so offensiv politisch vorpreschten, Barrierefreiheit und Inklusion einforderten, während sich Hintergrund die Abendsonne auf den Dächern von Paris schlafen legte.
Der Abend „rege zum Nachdenken an“ kommentierte die Tagesschau verlässlich staatstragend und in der Tat haben die Franzosen abermals ein Gespür dafür bewiesen, Veranstaltungen dieser Art richtig in Szene zu setzen: Blindenfußball vor dem Eiffelturm, Radfahren durch die Altstadt, Triathlon an und in der Seine – dem weltberühmten Fluss, über den so viel gesprochen wurde, wie noch nie. Alle wollten wissen: Wie steht es wirklich um die Wasserqualität? Welche Hautkrankheiten kann man erwarten? Wie sehen die dann aus? Als nach mehreren Verschiebungen die Triathleten dann doch reinsprangen, sorgte der Wettkampf genau für den X-Faktor, der so eine Veranstaltung bereichert.
Viele Franzosen, ja sogar viele derer, die zunächst wütend gegen die Spiele protestierten, wurden von den Wettkämpfen in den Bann gezogen. Fast zweieinhalb Millionen verkaufte Tickets, jubelnde Fankurven, immerzu „Allez, Allez“, rund um die Uhr Übertragungen im französischen Fernsehen, und fürs Sitzvolleyball kriegte man keine Karten mehr. All das trägt der einzigartigen Eigendynamik der Pariser Paralympics Rechnung, bei denen fast im Minutentakt Rekorde gebrochen werden.
Das registrierten zuerst die, die es noch anders kennen: Friedhelm Julius Beucher, seit 2009 Präsident des Deutschen Behindertensportverbands, Urgestein des Parasports, spricht von einer „Leistungssportrevolution“. Beim Finallauf im Rudern, Kategorie Mixed Zweier, verpasst Jan Helmich um hundertstel eine Silbermedaille, unmittelbar nach dem Rennen steht er nichtsdestotrotz lächelnd in der Mixed Zone und schwärmt von der „neuen Leistungsdichte“ in den Wettkämpfen.
Die Weltstadt mit Herz hat es verstanden, ihre Trümpfe auszuspielen; die Athletinnen und Athleten sind begeistert von den atemberaubenden Spielstätten, dem mitreißenden Publikum und der täglich gelingenden Organisation. Die Sportlerinnen und Sportler, Verbände und Funktionäre haben die Paralympics zu einer weltbekannten Marke entwickelt, das fällt umso mehr auf im Vergleich zu den epidemiebedingten Geisterspielen vor vier Jahren in Tokio.
Dabei sind die Spiele stets auch geformt von dem Zeitgeist um sie herum: In Europa, wo dieses Turnier ausgerichtet und von wo es vermarktet wird, hat ein Diskurs Konjunktur, in dem Menschen aus marginalisierten Gruppen ihre äußeren Merkmale und Diskriminierungserfahrungen einer sozialen Identität zurechnen. Aus der heraus weisen sie auf Benachteiligungen und Stigmatisierungen hin und fordern Sichtbarkeit sowie Mitsprache ein. Oder wie es auf Twitter heißt: „Wenn man Paralympics heute erfände, wäre es woke.“
Dass die Paralympics in ihrer Außendarstellung davon profitieren, ist klar, wie lange sich dieser Zeitgeist hält und was darauf folgt, nicht. Ob es eine Revolution war? Zumindest im Momentum. Paris hat einen nie dagewesen Leistungssprung erlebt, der weit über die Wettkampfplätze hinaus elektrisiert und die Spiele neu dimensioniert hat.
Offen bleibt, inwieweit Sport und Politik dieses Momentum nutzen. Um bei kommenden Europa- und Weltmeisterschaften, die außerhalb der Marke „Paralympics“ laufen, für volle Ränge zu sorgen. Um Inklusion voranzutreiben. Um auch, ganz praktisch, den Breitensport inklusiver zu gestalten. Wenn Menschen mit Behinderung weltweit Zugänge zum Sport erhalten, wäre das einerseits eine Selbstverständlichkeit, andererseits aber tatsächlich auch das: revolutionär.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de
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