Fake News in den Massenmedien: Brauchen wir ein Recht auf Wahrheit?

© getty images Mateus Andre, freepik, Gestaltung: Sabine Wilms

Fake News in den Massenmedien: Brauchen wir ein Recht auf Wahrheit?

Wenn Firmen Bilanzen fälschen, verstoßen sie gegen Gesetze. Ähnliches müsste es für Nachrichtenportale geben: Auch sie sollten niemanden belügen oder in die Irre führen dürfen.

Ein Gastbeitrag von Geoff Mulgan

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine neue Falschmeldung im Internet kursiert. Man kann sagen, dass Wahrheit „under attack“ ist. Und die Menschen wissen das auch.

In einer weltweiten Umfrage, die kürzlich von den Vereinten Nationen durchgeführt wurde, äußerten sich mehr als 85 Prozent der Befragten besorgt über die Auswirkungen von Online-Desinformation.

Dass die Welt mit Lügen, verzerrten und verdrehten Informationen überschwemmt wird, liegt vor allem am Aufstieg der sozialen Medien und digitalen Plattformen. Deren Algorithmen sollen das Publikum ködern und verstärken dafür aufmerksamkeitserregende Informationen unabhängig von deren Wahrheitsgehalt.

2023 hat eine Studie gezeigt, dass jedes zusätzliche negative Wort in einer Schlagzeile die Klickrate um 2,3 Prozent erhöht.

Ein weiterer Grund für das Versagen bei der Bekämpfung von Desinformation ist allerdings auch, dass die liberale Tradition der freien Meinungsäußerung Vorrang hat vor dem Recht auf Wahrheit.

Das Konzept der freien Meinungsäußerung geht dabei davon aus, dass ein freier und fairer Wettbewerb auf dem „Markt der Ideen“ dafür sorgen wird, dass die Wahrheit über die Lüge triumphiert. Aber inzwischen ist klar, dass das falsch ist.

Es wird schwerer, Fakten von Unwahrheiten zu unterscheiden

Die „Überflutung des Raums mit Shit“, wie Donald Trumps ehemaliger Chefstratege Steve Bannon es ausdrückte, schürt Misstrauen. Und sie macht es immer schwerer, Fakten von Unwahrheiten zu unterscheiden.

Manche glauben schon, dass die Wahrheit unrettbar zersplittert sei. Doch viele Länder haben die Instanzen gestärkt, die nach den besten verfügbaren Wahrheiten suchen: Gerichte setzen hochentwickelte forensische Instrumente wie DNA ein, um bessere Urteile zu fällen. Die moderne Wissenschaft sucht nach kritischer Auseinandersetzung. Und es gibt Finanzgesetze, die Täuschung in Bilanzen und öffentlichen Erklärungen bestrafen.

Auf Grundlage dieser Institutionen ließe sich eine Infrastruktur der Wahrheit aufbauen. Deren Herzstück wäre ein neues Recht auf Wahrheit – oder mit anderen Worten: das Recht, nicht von mächtigen und einflussreichen Organisationen belogen oder wissentlich irregeführt zu werden.

Als Erstes ist das Recht gefragt. Viele Länder in Europa und anderswo haben strenge Verbraucherschutzgesetze, die irreführende und falsche Behauptungen in Werbung und Marketing verbieten.

Das gleiche Prinzip sollte auf die gesamte politische Kommunikation angewandt werden – was Australien bereits in Erwägung zieht – und schließlich auf jede Art von Massenkommunikation.

Das wissentliche Verbreiten von Lügen sollte für die Urheber Konsequenzen haben: in erster Linie finanzielle, aber auch etwa das Verbot, ein öffentliches Amt zu bekleiden oder in den Medien zu arbeiten.

Schon heute können Medienorganisationen für die Verbreitung von Fehlinformationen bestraft werden. So musste etwa Fox News fast 800 Millionen Dollar Schadenersatz an den Wahlmaschinenhersteller Dominion zahlen, nachdem der Sender dem Unternehmen Wahlmanipulation unterstellt hatte.

Die Unterstellung der Wahlmanipulation brachte auch die Bevölkerung gegen Fox News auf.

© IMAGO/ZUMA/Gina M Randazzo

Zweitens müssen unabhängige Akteure, Organe, Institutionen gestärkt werden, die der Wahrheitsfindung verpflichtet sind und die es in Wissenschaft, Finanzen, Gesundheit und Sicherheit bereits gibt.

In den Medien erfüllen gemeinnützige Nachrichtenagenturen und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten diese Aufgabe. Sie müssen von politischen und marktwirtschaftlichen Zwängen abgeschirmt bleiben.

Drittens braucht es mehr Regulierung für die mächtigen Informationsanbieter. Im Juli veröffentlichte die Europäische Kommission eine „vorläufige Feststellung“, nach der sie die zahlungspflichtigen verifizierten Konten für Täuschung hält, da die eine Geprüftheit vorgaukeln, die nicht existiert, weil jeder, der zahlt, so ein Konto eröffnen kann.

Das verstoße gegen das Gesetz und könnte für die Social-Media-Plattform X Geldstrafen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Umsatzes bedeuten. In Deutschland verpflichtet zudem das Netzwerkdurchsetzungsgesetz Plattformen mit mehr als zwei Millionen Nutzern, „eindeutig rechtswidrige“ Inhalte zu entfernen.

Elon Musk hat wegen seiner Plattform X immer wieder Ärger mit den europäischen Behörden.

© Sebastian Gollnow/dpa

Viertens brauchen unabhängige Wahlkommissionen im Vorfeld von Wahlen ausreichend Befugnisse, um falsche Behauptungen zu überprüfen und zu korrigieren und die schädlichsten Fehlinformationen oder Deepfakes zu blockieren. Denn dann ist das Manipulationsrisiko am größten und die Wahrheit am verwundbarsten.

Fünftens muss die nächste Generation besser zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden lernen. Die Schulen in Finnland und Dänemark gehen mit gutem Beispiel voran, indem sie Lektionen über Desinformation in die Lehrpläne aufnehmen.

Was es nicht braucht, sind „Wahrheitsministerien“

Und schließlich entwickeln einige Technologiepioniere wie Factiverse, Myth Detector und Faktisk Verifiserbar bereits Instrumente, die künstliche und kollektive Intelligenz kombinieren, um Fehlinformationen zu erkennen. Solche Initiativen sollten unterstützt werden.

Um den Erfolg zu gewährleisten, sollte das Recht auf Wahrheit als Protokoll in die Europäische Menschenrechtskonvention aufgenommen werden und die in der US-Verfassung garantierte Redefreiheit ausgleichen.

Für die Berufung auf dieses Recht müsste es eine hohe Messlatte geben, um Meinungsverschiedenheiten und Auslegungsdifferenzen genug Raum zu lassen. Und es sollte von Gerichten durchgesetzt werden und nicht von Regierungen oder „Wahrheitsministerien“.

Musk und andere sind der festen Überzeugung, dass die Redefreiheit ein absolutes Gut ist und dass darum letztlich das Recht zu lügen schwerer wiegen sollte als das Recht auf Wahrheit. Ihre Ansicht ist verständlich und hat ehrenwerte Wurzeln. Aber sie passt nicht mehr in unsere Zeit.

Zur Startseite

showPaywall:falseisSubscriber:falseisPaid:showPaywallPiano:false

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Comments (0)
Add Comment