Sprachlosigkeiten seit dem 7. Oktober: Zur Freiheit der Rede gehören auch Aussagen, die stören, ärgern, verletzen

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Sprachlosigkeiten seit dem 7. Oktober: Zur Freiheit der Rede gehören auch Aussagen, die stören, ärgern, verletzen

Die Angst vieler Deutscher, im Kampf gegen den Antisemitismus zu versagen, ist groß. Gut so! Doch die Maßnahmen dagegen kollidieren immer öfter mit der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

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Zuletzt traf es Nathan Thrall. Der amerikanische Autor, der in Jerusalem lebt, war für den 7. Mai vom „Union International Club“ zu einer Lesung nach Frankfurt am Main eingeladen worden. Doch wenige Tage zuvor sagte der Veranstalter ab. Erst als ein Ersatzveranstalter kurzfristig einsprang, konnte die Lesung stattfinden.

In seinem Buch „A Palestine Story“ schildert Thrall das Leben von Palästinensern unter israelischer Besatzung. Ein heikles Thema. Kurz nach der Lesung wurde Thrall für sein Buch mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Davor traf es die israelisch-palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli, die im Rahmen der Frankfurter Buchmesse den LiBeraturpreis erhalten sollte. Das wurde ausgesetzt, weil man sie der Nähe zur BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen), bezichtigte.

Der Unterschied zwischen strafbaren und unliebsamen Aussagen verwischt

Wenn gegen Gesetze verstoßen wird, bei Volksverhetzung etwa, muss die Polizei eingreifen. Doch immer öfter kollidieren Auftrittsverbote mit der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Der Unterschied zwischen strafbaren Handlungen und politisch unliebsamen Aussagen wird verwischt.

Auch das, was auf der Documenta gezeigt und bei der Preisverleihung der Berlinale gesagt wurde, ging über die Duldungsfähigkeit vieler Beobachter hinaus. Das zeugt von einem hohen Maß an Erregungsbereitschaft. Das Echo solcher Skandale hallt lange nach.

Unter der Überschrift „Cancelkulturkampf“ reihte der „Economist“ Anfang des Jahres Fälle dieser Art aneinander. Der Artikel beginnt so: „Was haben ein indischer Dichter, ein australischer Politikwissenschaftler, eine irische Folkloregruppe, ein britischer Architekt, ein Fotograf aus Bangladesch, ein amerikanischer Holocaust-Historiker, ein chilenischer Komponist, ein israelisch-österreichischer Dramatiker, ein niederländischer Fußballspieler, ein deutsch-nigerianischer Journalist, ein palästinensischer Schriftsteller, ein südafrikanischer Künstler und Bernie Sanders, der amerikanische Senator, gemeinsam?“

Berlin war einst ein Leuchtturm der künstlerischen Freiheit. Gaza hat alles verändert.

Titel eines „New York Times“-Artikels vom April 2024

Die Antwort gibt das britische Magazin selbst: Sie alle – und viele andere auch – seien in Deutschland abrupt abgesetzt worden. Die Gründe für die Absage von Auftritten, Stipendien, Vorträgen, Auszeichnungen oder Treffen mit Vertretern des öffentlichen Lebens seien zwar unterschiedlich.

Allen gemeinsam aber sei „die Befürchtung, dass die ausgeladenen Personen, von denen nicht wenige zufällig Juden sind, etwas gesagt haben könnten, was als antisemitisch angesehen werden könnte“.

„Berlin war einst ein Leuchtturm der künstlerischen Freiheit“, titelte die „New York Times“ und ergänzt: „Gaza hat alles verändert.“

Die amerikanisch-russische Autorin Masha Gessen konnte im Dezember nur unter Polizeischutz und von Protesten begleitet den Hannah-Arendt-Preis entgegennehmen. In die Kritik war sie geraten, weil sie den Gazastreifen mit jüdischen Ghettos verglichen und sich kritisch mit der deutschen Auslegung des Antisemitismus-Begriffs auseinandergesetzt hatte. In Deutschland herrsche eine Kultur des „Mundtot-Machens“, beklagt sie.

Die Angst vieler Deutschen, im Kampf gegen den Antisemitismus zu versagen, hat seit dem 7. Oktober zugenommen. Aus moralischen und historischen Gründen ist diese Angst berechtigt, der Kampf gegen Antisemitismus richtig und geboten. Die Zahl antisemitischer Übergriffe steigt kontinuierlich. Nie wieder sei jetzt, wird betont. Das ist auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte.

Nur in einer Diktatur ließe sich jede Form von Antisemitismus verbieten

Eine andere Lehre lautet: Wir müssen die Demokratie verteidigen, den Rechtsstaat, die elementaren Grundrechte. Dazu gehören die Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. In einer Diktatur ließe sich jede Form von Antisemitismus rundheraus verbieten. Wer sich antisemitisch äußert, würde in ein Straflager verbannt. Das wird keiner wollen.

Folglich stehen sich zwei Lehren aus der Geschichte gegenüber, reiben sich aneinander, geraten gelegentlich in einen Gegensatz. Es gilt: Juden in Deutschland müssen sich sicher fühlen. Es gilt auch: Nicht alles, was sie sich unsicher fühlen lässt oder zu Recht empört, kann mit den Mitteln des Strafrechts aus der Welt geschafft werden. Sicherheitsbedürfnis und Freiheitsverlangen müssen austariert werden.

Susan Neiman, die Direktorin des Einstein Forums in Berlin, hat den Deutschen nach dem 7. Oktober einen „philosemitischen McCarthyismus“ attestiert, der das reiche kulturelle Leben des Landes bedrohe. Die Entschlossenheit, den Antisemitismus auszurotten, sei von Wachsamkeit in Hysterie umgeschlagen, schreibt sie in der „New York Review of Books“.

Es kennzeichnet hyperaufgeregte Debatten, dass es sie eigentlich nicht gibt. Stattdessen hauen sich die Kontrahenten ihre Standpunkte um die Ohren. Das hinterlässt Ratlosigkeit und das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen. Jedes Wort kann eines zu viel sein. Wie lässt sich die Abschottung durchbrechen?

Der Ausgangspunkt einer Verständigung müsste eine doppelte Zusicherung sein: Wer Israels Recht auf Selbstverteidigung betont, rechtfertigt nicht automatisch den Tod von Tausenden Palästinensern. Wer den Tod Tausender Palästinenser beklagt, rechtfertigt nicht automatisch die Terrormethoden der Hamas oder ruft zur Vernichtung Israels auf.

Es ist gut und richtig, wenn die Zivilgesellschaft gegen Hass und Hetze aufbegehrt. Aber nicht alles, was wehtut, ist verboten oder sollte verboten werden. Zur Freiheit der Rede gehören auch Aussagen, die stören, ärgern, verletzen. Solche Aussagen sind Kollateralschäden der Freiheit. Sie müssen in Kauf genommen werden, um die Freiheit als solche zu bewahren.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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