Lücken im kollektiven Gedächtnis: Die Deutschen wissen wenig über die Shoah in Polen

© Rolf Brockschmidt

Lücken im kollektiven Gedächtnis: Die Deutschen wissen wenig über die Shoah in Polen

Eine Studie offenbart Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur, wenn es um die Rolle der Deutschen in der polnischen Geschichte geht. Ein Kunstwerk soll nun Wissenslücken schließen helfen.

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Wo gab es die meisten Opfer des Holocausts? Ganze 59 Prozent der Deutschen glauben, dass vor allem deutsche Jüdinnen und Juden betroffen waren. Jüdische Polen mit 28 Prozent werden lediglich als zweite Opfergruppe der Shoah genannt. Dies ergab eine repräsentative Umfrage Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Juli 2024. In Wahrheit aber sind die Verhältnisse umgekehrt.

So wurden im Deutschen Reich 165.000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger ermordet, in Polen waren es drei Millionen, erläutern Mateusz Falkowski und Hanna Radziejowska, die das Pilecki-Institut in Berlin leiten. Sie beauftragten die Studie aus Anlass des 85. Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Deutschen führen die Autoren in einer ersten Auswertung auf mangelndes Wissen über polnische Geschichte und Lücken in der Erinnerungskultur zurück.

Wissenslücken unter den Befragten

Die Umfrage, die man in Form einer Skulptur derzeit im Pilecki-Institut erkunden kann, offenbarte weitere Wissenslücken unter den Befragten. Auf die Frage, wo es die härtesten Strafen für die Hilfe für Juden gab, nannten zwei Drittel Deutschland, gefolgt von Polen mit 54 Prozent und der Sowjetunion mit 48 Prozent. 46 Prozent der Befragten gaben an, dass es in Deutschland dafür die Todesstrafe gegeben hätte, während für das besetzte Polen nur 31 Prozent diese Antwort wählten.

Dabei war Polen das einzige besetzte Land, in dem die Nazis eine solch drastische Strafe für die Unterstützung von Juden verhängt hatten – in Deutschland mussten die sogenannten „Judenretter“ mit Inhaftierung im Konzentrationslager rechnen.

Bei der Frage nach der Verantwortung der Deutschen für den Holocaust gaben mehr als die Hälfte (57 Prozent) an, dass Kollaborateure in den besetzten Ländern in ähnlicher Weise schuld gewesen seien wie die Deutschen. Nur neun Prozent geben allein den Deutschen die Schuld, ein Drittel meint, dass „vor allem Deutsche“ verantwortlich gewesen seien.

Weil die Antworten so stark von den Fakten abweichen, schließen die Autoren, das Ausmaß der Repression in Polen sei den Deutschen bis heute weitgehend unbekannt. Die Teilnehmenden selbst schätzen ihr Wissen anders ein. Gut die Hälfte glaubt, die Verbrechen an den polnischen Opfern seien teilweise aufgearbeitet, ein Viertel, dass es vollständig aufgearbeitet sei.

Am Pilecki-Institut ist man der Auffassung, dass fehlende Kenntnisse der Deutschen über die Besatzungszeit in Polen einem besseren deutsch-polnischen Verständnis im Weg stehen. Daher das Anliegen, die ersten Ergebnisse der Umfrage in Form der Skulptur „Erosion“ der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Kunst thematisiert Verfall von Erinnerungen

Geschaffen hat sie das Warschauer Künstlerkollektiv panGenerator. Das Werk war eine Woche vor dem Brandenburger Tor zu sehen, bevor es ins Pilecki-Institut umzog. Das fragmentarische kubistische Gebilde zeigt auf 400 Einzelbildschirmen Fragen und Antworten der Studie. Dann zerfallen die Fragen, die Antworten werden unleserlich und stürzen ab. Das soll den Zerfall des Andenkens symbolisieren: „Erosion ist ein natürlicher Prozess, und das gilt auch für die Erinnerung“, sagt Jakub Kozniewski, Mitgründer der polnischen Digitalkunst-Gruppe. „Wir wollen niemanden belehren, aber Denkanstöße geben.“

Dass unser Nachbarland Polen im deutschen Geschichtsbewusstsein keine große Rolle spielt, zeigt die Studie ebenfalls. Die Befragten forderten gerade für jene Gruppen mehr Aufmerksamkeit, die in den letzten Jahrzehnten durch Mahnmale bereits einen Platz in der deutschen Öffentlichkeit erhielten: Sinti und Roma, die Opfer der Euthanasie, Widerstandskämpfer und Juden. Polen fehlte in dieser Aufzählung.

Dabei attestieren die Deutschen ihrem Nachbarn sogar Nachholbedarf in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, dass Deutschland sich „voll und ganz“ oder „eher“ mit seiner Geschichte auseinandergesetzt habe. Den Polen gestanden sie das nur zu 30 Prozent zu.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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