Schluss mit dem Sowohl-als-auch!: Die Grünen müssen sich zwischen Klimabewegung und Mitte-Wählern entscheiden

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Schluss mit dem Sowohl-als-auch!: Die Grünen müssen sich zwischen Klimabewegung und Mitte-Wählern entscheiden

Der Wahlkampf der Grünen basierte darauf, niemandem etwas zuzumuten. Doch so geht es nicht weiter für die Partei. Sie muss ihr gesellschaftliches Gespür wiederfinden – und mit einer Stimme sprechen.

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An Ratschlägen für die Grünen-Spitze mangelt es in diesen Tagen nicht. Die Partei sei „zu oft ökologisch eingeknickt“, beklagt Luisa Neubauer. „In harten Zeiten muss klar sein, wer der Chef ist“, sagt dagegen Winfried Kretschmann und empfiehlt mehr Macht für Robert Habeck.

Die Klimaaktivistin und der Ministerpräsident – beide Parteimitglieder verkörpern das gesamte Spektrum, das die Grünen abbilden. Dass sich die 28-Jährige und der 76-Jährige bemüßigt sehen, ihrer Partei Empfehlungen zu geben, liegt am Absturz bei der Europawahl.

Selbst die Parteistrategen sind völlig ratlos

Ein Minus von 8,5 Prozent, in Umfragen kommt die Partei nur noch auf elf Prozent. Ein Desaster. Darin sind sich Neubauer und Kretschmann einig. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten dann auch schon.

Den Grünen droht ein Flügelstreit, denn die Wahlschlappe wird auch nach einer Woche ganz unterschiedlich bewertet. Im linken Flügel fordert man ein klareres Profil der Partei, im Realo-Lager mehr Pragmatismus und Personalisierung.

Die einen wollen die Kernwähler begeistern, die anderen wieder stärkere Signale ins bürgerliche Lager senden. Und die Parteispitze? Verspricht beides – man werde mobilisieren und ausgreifen, garantierte Grünen-Chefin Ricarda Lang schon am Tag nach der Europawahl.

Emily Büning, politische Geschäftsführerin der Grünen, steht in der Kritik.

© dpa/Hannes P Albert

Doch wie das gehen soll? Selbst die Parteistrategen sind völlig ratlos, denn genau dieser sowohl-als-auch-Kurs ist gescheitert. Seit dem misslungenen Heizungsgesetz wirken die Grünen wie ohne Kompass. Herausgekommen ist zur Europawahl ein Schlafwagenwahlkampf, von dem nichts hängen blieb.

Ihre Kampagne wollte alles sein: Das Klima und die Demokratie wollten die Grünen pauschal schützen, blieben dabei aber unkonkret. Auf Plakaten forderten die Grünen wahlweise „Wohlstand erneuern“, „Freiheit verteidigen“ oder ein „sicheres Deutschland“. Ein Wahlkampf, der darauf zielte, niemandem etwas zuzumuten – und bloß keine Fehler zu machen.

Trotz des Desasters scheinen personelle Konsequenzen unwahrscheinlich. Zwar wäre es zu billig, die Niederlage nun allein der politischen Geschäftsführerin Emily Büning in die Schuhe zu schieben. In der Partei sollte man sich jedoch fragen, ob man der nach außen unauffälligen Parteilinken auch die nächste große Kampagne zur Bundestagswahl wieder anvertrauen möchte.

Die Grünen müssen sich entscheiden. Sie brauchen einen klaren Kurs. Eigentlich ist der vorgezeichnet: Denn die Partei muss sich bemühen, für breite Wählerschichten wählbar zu bleiben. Ihr Wählerpotenzial ist in den vergangenen Monaten dramatisch geschrumpft. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann sich überhaupt nicht vorstellen, den Grünen die Stimme zu geben – selbst bei der AfD ist der Anteil niedriger.

Der Traum der Volkspartei könnte scheitern

Um das zu ändern, muss die Partei raus aus der Blase, näher ran an die Sorgen und Ängste im Land. Das gesellschaftliche Gespür ist der Partei zu oft abhandengekommen. Beim Asylkurs, beim Heizungsgesetz, bei der Atomkraft. Kaum ein Milieu ist laut Studien so geschlossen wie das der Grünen. Genau das muss sich ändern.

In der Mitte bleibt für die Grünen mehr zu gewinnen als sie bei ihrer Kernklientel verlieren können. Zumal das progressive Lager links der Partei zersplittert bleibt. Wer bei der Europawahl aus Enttäuschung über die Grünen Volt, die Linke oder die Klimaliste gewählt hat, dürfte sich das bei der Bundestagswahl mit der Fünf-Prozent-Hürde genau überlegen. Besser mit Bauchschmerzen Grün, als die Stimme im Sonstigen-Balken zu verschwenden.

Mit Robert Habeck haben die Grünen im Wirtschaftsministerium einen außergewöhnlichen Kommunikator sitzen, der weit in die Gesellschaft ausgreifen und gleichzeitig die Basis hinter sich vereinen kann. Nur auf Funktionärsebene gibt es Bedenkenträger. Das lähmt die Grünen.

Wenn die Partei auf den Pragmatiker Habeck setzt, muss sie seinem Kurs folgen. Starken Männern steht man bei den Grünen zwar traditionell skeptisch gegenüber, doch nur wenn die Grünen mit einer Stimme sprechen, können sie in der Bevölkerung gehört werden.

Die Operation Habeck ist nicht ohne Risiko. Scheitert Habeck, dürfte der grüne Traum der Volkspartei für lange Zeit gescheitert sein. Führt er die Partei zum Erfolg, braucht es die Ratschläge von Klimaaktivisten und Ministerpräsidenten nicht mehr.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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