„Zu schön, um ein Fehler zu sein”: Den Medizin-Nobelpreis gibt es für die Entdeckung der microRNA

© Nobel Prize Outreach/Illustration: Niklas Elmehed

Update „Zu schön, um ein Fehler zu sein”: Den Medizin-Nobelpreis gibt es für die Entdeckung der microRNA

In diesem Jahr wird die Entdeckung von Molekülen ausgezeichnet, die regulieren, wie Erbgut aktiv wird – in Organismen von unscheinbaren Mehrzellern bis hin zum Menschen.

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„Siehst du, was ich sehe?”, fragte Victor Ambros. „Das ist zu schön, um ein Fehler zu sein”, antwortet Gary Ruvkun. Es ist ein Sommertag im Jahr 1992 und die zwei Biologen lesen sich am Telefon eine Abfolge von scheinbar wirren Buchstaben vor.

Eigentlich hatte Ambros, heute an der Universität von Massachusetts in Worcester, mal davon geträumt, Baseballspieler zu werden. Ruvkun, inzwischen Professor am Massachusetts General Hospital der Harvard Universität, faszinierte die Quantenphysik. Doch statt spektakulär mit Schlägern oder physikalischen Formeln zu hantieren, saßen sie nun vor Gensequenzen des Fadenwurms Caenorhabditis elegans, der Abfolge der Erbgutbausteine, abgekürzt mit A, C, G und T (oder U).

Beide ahnten nicht, dass sie gerade einen der wichtigsten Mechanismen entdeckt hatten, mit dem Gene reguliert und Zellen so gesteuert werden können, dass sie spezielle Funktionen im Körper übernehmen können, und dafür 32 Jahre später den wichtigsten Preis erhalten könnten, den die Wissenschaft zu vergeben hat, den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie.

„Würmer, die ein bisschen komisch aussahen“

Ganz offiziell bekommen Ruvkun und Ambros den Preis für „die Entdeckung von microRNA und ihre Rolle in der posttranskriptionalen Genregulation”. Laut der Übersetzung von Olle Kämpen vom Nobelkomitee „wurde hier ein völlig neuer physiologischer Mechanismus entdeckt, von dem zuvor niemand etwas ahnte“. Eigentlich hätte sich die beiden Forscher „Würmer angeschaut, die ein bisschen komisch aussahen“, und sich dann entschieden herauszufinden, warum. „So entdeckten sie einen neuen Mechanismus, durch den Gene reguliert werden.”

Die Genregulation ist ein ausgeklügeltes Konzept: Alle Zellen eines Organismus enthalten die gleiche Erbsubstanz DNA. Diese „Gebrauchsanweisung“ enthält alle Informationen, alle Gene, die jede einzelne Zelle braucht, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Doch wie wird aus einer Stammzelle mal eine Nervenzelle und mal eine Muskelzelle, wenn sie doch beide das gleiche Erbgut enthalten?

Zwar hatten Biologen darauf schon ein paar Antworten gefunden, etwa dass nicht in jeder Zelle alle, sondern nur einige wenige Geninformationen genutzt werden. Doch das erklärte noch immer nicht die Vielfalt verschiedener Zellen. Ambros und Ruvkun fanden ein weiteres, wichtiges Regulationssystem – und zwar gemeinsam.

Der Beginn eines der großen Nobelpreise

Die beiden Forscher lernten sich in den späten 80ern am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (USA) kennen. Sie arbeiteten beide im Labor von Robert Horvitz (2002 Medizin-Nobelpreisträger) an einem der wichtigsten „Modellorganismen“, an denen Biologen grundlegende Mechanismen des Lebens studieren: Caenorhabditis elegans. Der fast durchsichtige Fadenwurm ist nur ein Millimeter lang und lebt nur drei Wochen – aber diese Einfachheit macht schnelle Experimente und Untersuchungen möglich, etwa um die Entwicklung jeder einzelnen Zelle der immer 1031 Zellen (bei Männchen) zu verfolgen.

Ein Gen war im Labor von Horvitz besonders aufgefallen: „lin-14“. War dieses Gen mutiert, entwickelten sich bestimmte Organe nicht richtig. Die Würmer übersprangen die frühen Entwicklungsstadien als Larve. Allerdings stand das lin-14-Gen unter der Kontrolle eines anderen Gens, dem lin-4-Gen. Doch wie die beiden Gene miteinander interagierten, war unklar.

Caenorhabditis elegans ist ein Modellorganismus für die Entwicklungsbiologie und die Genetik.

© stock.adobe.com/Heiti Paves

Victor Ambros und Gary Ruvkun sind beide brillante Wissenschaftler und wunderbar warmherzige und fürsorgliche Menschen. Ihre Entdeckung der microRNAs war wegweisend – unerwartet, grundlegend und von weitreichender Bedeutung. Ich hatte das Privileg, sie als Mitglieder meines jungen Labors zu haben, und ich freue mich, sie beide bis heute zu meinen Freunden zählen zu dürfen.

schreibt Robert Horvitz, Medizin-Nobelpreisträger Medizin von 2002, dem Tagesspiegel auf die Frage, wie er die Auszeichnung seiner beiden ehemaligen Mitarbeitern beurteilt.

Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, entschlüsselten sie das Erbgut der beiden Gene. Damals war dieser Vorgang noch sehr mühsam und Ruvkun musste Ambros erst die nötigen molekularbiologischen Handgriffe beibringen. Doch dann trennten sich die Wege der befreundeten Forscher. Ambros startete seine eigene Forschungsgruppe an der Harvard Universität und Ruvkun baute sein Labor am Massachusetts General Hospital in Boston auf.

Würmer mit Entwicklungsschäden: Die C.elegans-Mutanten lin-4 and lin-14 

© nobelprize.org/Ambros

Dennoch arbeiteten die befreundeten Forscher weiter gemeinsam an dem Projekt. Sie ahnten, dass lin-4 und lin-14 irgendwie zusammengehörten, tauschten sich aus, sendeten sich ihre Ergebnisse, telefonierten.

Wie an jenem Tag 1992. Als sie die Erbgutsequenzen von lin-4 und lin-14 verglichen, fiel ihnen zweierlei auf:

  1. Die Geninformationen von lin-4 werden nicht in ein Protein übersetzt, so wie es für die meisten Gene sonst üblich ist. Stattdessen wird nur eine kurze Kopie der DNA, eine „micro-RNA“ hergestellt. Sie ist nur 21 Bausteine lang.
  2. Und diese 22 RNA-Bausteine „passen“ zu einer Stelle in der RNA-Kopie des lin-14-Gens, der lin-14-Boten-RNA.

Viele weitere Experimente und Überlegungen später wurde schließlich klar, dass die micro-RNA von lin-4 sich an die RNA-Kopie des lin-14-Gens „klammert“ und dann dafür sorgt, dass die lin-14-Boten-RNA zerstückelt wird. Damit hatten Ambros und Ruvkun einen neuen Mechanismus entschlüsselt, mit dem Gene sich gegenseitig beeinflussen können.

Ein Durchbruch, der anfangs wenig Aufsehen erregte. Erst als Ruvkuns Labor micro-RNAs auch bei Fliegen, anderen Tieren und auch dem Menschen entdeckte, wurde klar, dass die beiden Forscher einen molekularen Mechanismus entdeckt hatten, der universell bei allen Vielzellern existiert, vermutlich seit Hunderten Millionen Jahren.

Heute ist bekannt, dass das menschliche Erbgut mehr als 1000 Gene für microRNA enthält. Wann immer sich eine Zelle weiterentwickelt, um eine bestimmte Funktion auszuüben, sind micro-RNAs beteiligt. „Das gilt für den ganzen Körper, aber vor allem für das Gehirn, wo es viele spezialisierte Zelltypen gibt“, sagt Nikolaus Rajewsky, Leiter des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie am Max-Delbrück-Center, der seit 2002 an micro-RNAs forscht. Offenbar gebe es eine Parallele zwischen Intelligenzleistung und Mikro-RNA-Menge, sagt Rajewsky: „Sowohl beim relativ intelligenten Oktopus als auch beim Menschen gibt es im Laufe der Evolution eine Explosion der Menge der Mikro-RNAs.“ Vermutlich seien Mikro-RNAs für die Ausbildung komplexer Gehirne nötig.

Wenn die Regulationsnetzwerk der micro-RNAs allerdings gestört ist, dann kann es auch zu Krankheiten kommen. „Das sieht man etwa daran, dass dieses Netzwerk in den meisten Tumoren gestört ist“, sagt Ole Kämpen vom Nobelkomitee. „Wir hoffen, dass wir das eines Tages auch behandeln können.“

Ein Medikament, das Mikro-RNAs nutzt oder verändert, um Krankheiten zu behandeln, gibt es aber noch nicht. Es ist diesmal also ein Nobelpreis, der für Grundlagenforschung verliehen wurde.

„Ich bin überrascht und erfreut – es ist ja eher unüblich, dass der Nobelpreis für eine Entdeckung vergeben wird, bei der es noch keine klinische Anwendung gibt“, sagt Stefanie Dimmeler, die das Institut für Kardiovaskuläre Regeneration an der Universität Frankfurt am Main leitet.

Sie selbst sieht ein großes Potenzial für die kleinen Molekülschnipsel: „Eine einzelne microRNA wirkt nicht nur an einer, sondern an mehreren Stellen zugleich. Solche komplexen Muster sind interessant, weil viele Krankheiten nicht durch nur einen biologischen Vorgang entstehen und man an vielen Stellschrauben eingreifen muss, um sie zu behandeln.“ Dimmeler hat daher auf Basis von microRNA eine Therapie für Herzmuskelschwäche entwickelt. Ein maßgeschneidertes Molekül blockiert dabei die mikroRNA 92-a und fördert so die Bildung von neuen Blutgefäßen und damit die Durchblutung des Herzens.
(Mitarbeit: Miray Caliskan, Sascha Karberg, Jan Kixmüller, Birgit Herden, Patrick Eickemeier)

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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