Deutsche Einheit 2024: Zeit für eine neue Verfassung
Das gemeinsame „Wir“-Gefühl fehlt vielen Deutschen – vor allem in Ostdeutschland. Um das herzustellen, muss man sich gemeinsamer Werte neu versichern.
Ein Kommentar von Christian Tretbar
Unterschiede gibt es noch eine Menge. Die Löhne im Osten liegen knapp 30 Prozent unter denen im Westen. Die Eigentumsquote bei Wohnungen ist im Osten deutlich geringer (weniger als 40 Prozent im Osten und im Westen über 50 Prozent). Und ostdeutsche Führungskräfte gibt es auch kaum (acht Prozent in den Medien und vier Prozent in der Wirtschaft). So weit, so schlecht.
So weit, so gut: Viele ostdeutsche Bundesländer wachsen wirtschaftlich stärker als ihre westdeutschen Nachbarn. Die Kinderbetreuung ist flächendeckender, und die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen sind geringer als in den westdeutschen Bundesländern. Auch ziehen mittlerweile mehr Menschen in den Osten als umgekehrt aus dem Osten in den Westen.
Das alles ist nachzulesen im Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit. Ist sie gelungen oder nicht? Die Frage, die rund um den 3. Oktober wieder diskutiert wird, führt in die Irre. Denn eine Einheit im Sinne von Gleichheit der Lebensverhältnisse in Ost und West wird es auf absehbare Zeit kaum geben – und muss es auch nicht.
Deutsche Vielfalt auf einheitlichem Grund
Gleichheit gab es auch in der alten Bundesrepublik nie. Sie war seit ihrer Gründung von vielen regionalen Unterschieden geprägt – wirtschaftlichen, kulturellen und strukturellen.
: (03.10.24)
Es geht also auch heute weniger um die deutsche „Einheit“ im Sinne von Gleichheit als vielmehr um eine deutsche Vielfalt auf einheitlichem Grund. Genau hier liegen die Probleme.
Vor allem im Osten Deutschlands, auch das zeigt der Bericht, fehlt vielen ein gemeinsames „Wir-Gefühl“. Immer noch beklagen viele Ostdeutsche, dass sie sich in der Gesellschaft als Mitglieder zweiter Klasse fühlen.
Die Gründe dafür liegen allenfalls zum Teil in wirtschaftlicher Benachteiligung oder fehlender Repräsentanz in Unternehmen und Behörden. Schwerer wiegt ein Gefühl des Nicht-gesehen-und-gehört-Werdens, das nicht zuletzt in einem zentralen Fehler des Einheitsprozesses wurzelt.
Das Geltungsgebiet des Grundgesetzes wurde damals einfach auf die ostdeutschen Bundesländer erweitert. Es war der schnellste und auch der pragmatische Weg. Und doch erweist es sich im Nachhinein als schwere Bürde, dass damals keine gesamtdeutsche neue Verfassung erarbeitet wurde.
Lässt sich das heute heilen? Es wäre jeden Versuch wert. Weil nur, wer sich der gemeinsamen Werte vergewissert, ein tragendes „Wir-Gefühl“ erzeugen kann. Die Einheit vor 34 Jahren war für die Ostdeutschen ein emotionales Ereignis. Viele Westdeutsche sahen es kühler: Die Einheit kostete Geld, manchen brachte sie Geld.
Im Osten braucht es andere Formen der Partizipation
Das war die Verfasstheit des Landes. Und die Verfassung? Sie hat das Trennende nicht aufgehoben. Das Grundgesetz ist zwar kein starres System, es wurde in seiner Geschichte mehrfach angepasst; dennoch steht es in ausschließlich westdeutscher Tradition. Jetzt wäre es an der Zeit für eine Verfassungsreform, die dem Osten ernsthaft Rechnung trägt und auf den zentralen Werten des Grundgesetzes fußt.
Sie könnte die gesamte Vielfalt in Deutschland betonen. Zu den ostdeutschen Bedürfnissen zählt zum Beispiel eine stärkere und in Teilen auch andere Form der politischen Partizipation. Das können Bürgerräte oder andere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Beteiligung sein. Auch eine Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen wäre wichtig – insbesondere für den Osten. Und braucht es den Gottesbezug in der Präambel eigentlich noch?
Eine solche gemeinsame Verfassung wäre auch eine Möglichkeit, die Demokratie noch sturmfester zu machen. Unzufriedenheiten mit dem System, schwindendes Vertrauen in Parteien und Politiker – im Osten zeigen sich gesellschaftliche Verwerfungen früher und brachialer. Sie können das ganze Land erfassen.
Deutsche Einheit im Jahr 2024: Ohne ein neues „Wir-Gefühl“ wird es nicht gehen. Die Debatte über eine Verfassung im Sinne einer gemeinsamen Selbstvergewisserung kann dabei nur helfen. Unrealistisch? Vielleicht. Notwendig? In jedem Fall.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de