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Deutsche Waffen gegen russische Ziele?: Der Kanzler zögert, aber in der SPD tut sich etwas
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fordert die Verbündeten auf, der Ukraine zu erlauben, Russland mit westlichen Waffen anzugreifen – und rüttelt damit an einem Tabu.
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Die Frage ist nicht völkerrechtlicher, sondern rein politischer Natur. Aus Artikel 51 der UN-Charta, der das Recht zur Selbstverteidigung eines angegriffenen Staates festhält, ergibt sich keine Beschränkung auf das eigene Land.
Erst am Montag hat der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit noch einmal klargestellt, dass es auch aus Berliner Sicht legitim ist, sich als überfallenes Land auf dem Territorium des Angreifers dagegen zu wehren. Seit dem Beginn der russischen Invasion vor mehr als zwei Jahren hat die Ukraine das auch schon mehrfach so praktiziert – mit eigenen Waffen.
Mit den Waffen, die ihr westliche Verbündete überlassen haben, darf sie das bisher nicht. Die Nato-Staaten haben immer unter der politischen Voraussetzung geliefert, dass ihr Kriegsgerät nicht gegen Ziele auf russischem Territorium eingesetzt wird.
Das geht auf die Vereinbarungen aus der Zeit unmittelbar nach dem russischen Überfall zurück, als sich die Nato-Staaten darauf verständigten, alles dafür zu tun, dass es nicht zu einer Eskalation im Sinne einer direkten Konfrontation mit Moskau kommt.
Joe Biden gab die Richtlinie vor
„Wir ermuntern oder befähigen die Ukraine nicht, Schläge jenseits ihrer Grenzen durchzuführen“, lautete vor ziemlich genau zwei Jahren einer der Kernsätze in einem Gastbeitrag von US-Präsident Joe Biden in der „New York Times“ unter der Überschrift „Was Amerika in der Ukraine tun wird und was nicht“.
Der Artikel, auf den auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) immer wieder hingewiesen hat, umreißt letztlich bis heute die westliche Ukraine-Strategie.
Sie ist freilich schon mehrfach kritisch hinterfragt worden – am stärksten in der Debatte um den Marschflugkörper Taurus. Das Argument der Befürworter lautete, die Ukraine müsse dringend auch Stellungen und Nachschubwege weit hinter der Frontlinie angreifen können, um sich des russischen Angriffs erwehren zu können.
Kanzler Scholz entschied sich jedoch dagegen – unter anderem, weil er die Zielkontrolle nicht aus der Hand geben wollte und in möglichen ukrainischen Angriffen auf russisches Gebiet eine zu große Eskalationsgefahr sieht.
Für die deutschen Waffenlieferungen gebe es, so sagte Scholz bei einem Bürgerdialog in Berlin, „klare Regeln, die mit der Ukraine vereinbart sind und die funktionieren“.
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Nun jedoch ist mit dem Angriff auf die Millionenmetropole Charkiw im Nordosten des Landes erneut eine militärische Lageveränderung eingetreten, auf die jeweils immer wieder neu zu reagieren ebenfalls zu den Vereinbarungen der Allianz gehört.
Kein Geringerer als Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg trommelt deshalb derzeit dafür, dem ukrainischen Militär freie Hand bei der Selbstverteidigung zu geben und „einige der verhängten Beschränkungen aufzuheben“, wie er am Montag in der bulgarischen Hauptstadt Sofia sagte.
Nicht nur Stoltenberg macht Druck
Die Entscheidung liegt bei den einzelnen Mitgliedstaaten, die die Waffen liefern, Stoltenberg kann nur appellieren. Aber auch US-Außenminister Antony Blinken hatte sich kürzlich bei einem Besuch in Kiew offen dafür gezeigt, die entsprechenden Entscheidungen in die Hand des ukrainischen Militärs zu legen. Und die USA sind bekanntlich die große Nato-Macht, mit der sich Scholz bezüglich der Ukraine am engsten abstimmt.
Sein Versuch vom Wochenende, die Debatte zu beenden, ist bisher erfolglos geblieben. Für die deutschen Waffenlieferungen gebe es, so sagte Scholz bei einem Bürgerdialog in Berlin, „klare Regeln, die mit der Ukraine vereinbart sind und die funktionieren“.
Das sehen freilich weite Teile der Union, aber auch seine grünen und gelben Koalitionspartner überwiegend anders. Und auch in der SPD tut sich diesbezüglich etwas.
Wir müssen der Ukraine erlauben, mit unseren Mars-Raketenwerfern oder der Panzerhaubitze 2000 die Stellungen auf russischem Territorium anzugreifen.
Andreas Schwarz, SPD-Bundestagsabgeordneter
Unterstützung für Scholz’ zurückhaltenden Kurs gibt es immer noch. So etwa nach der SPD-Präsidiumssitzung, als Generalsekretär Kevin Kühnert dem Kanzler in der Ukraine-Politik den Rücken stärkte: „Sie kennen die Position des Kanzlers und den Rückhalt, den er dafür in der SPD hat.“ Daran habe sich nichts geändert.
„Generell stehe ich einer Erlaubnis, mit aus Deutschland gelieferten Waffen Ziele auf russischem Territorium anzugreifen, sehr zurückhaltend gegenüber“, erklärte der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner. Wegen der „Eskalationsgefahr“ würde er „zum Schutz von Charkiw mehr Luftverteidigungssysteme bevorzugen“.
Mehr Luftabwehr oder Ende der Limitierung?
Ähnlich wie Stegner argumentiert der SPD-Verteidigungspolitiker Johannes Arlt. „Die Folgen der diskutierten Veränderung für Deutschland wären nicht absehbar“, sagte er dem Tagesspiegel in Bezug auf den Appell des Nato-Chefs: „Ich würde mir wünschen, dass die Nato die Bundesregierung effektiver dabei unterstützen würde, bei den Mitgliedern um die kurzfristige Bereitstellung von Systemen zur Luftverteidigung für ukrainische Städte zu werben.“
Es gibt inzwischen aber auch andere Stimmen, die den Ball von Stoltenberg dankbar aufgreifen. So will etwa Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Kanzler und Regierung zu Gesprächen darüber „ermuntern“, „ob es nicht an der Zeit ist, die bisherigen Einsatzbeschränkungen für die vom Westen gelieferten Waffen aufzuheben“.
Die von Scholz angeführte Eskalationsgefahr sieht er in diesem Fall ausdrücklich nicht. „Die Ukraine wehrt mit Waffen aus Deutschland nun schon länger russische Angriffe ab. Sie sollte das auf Basis eines gemeinsamen Beschlusses aller Verbündeten auch tun dürfen, wenn die Angriffe von russischem Territorium ausgehen.“
Unterstützung für diese Linie kommt auch vom für den Verteidigungshaushalt zuständigen Fachpolitiker Andreas Schwarz, weil Kremlherrscher Wladimir Putin „die Auflagen zum Einsatz unserer Waffensysteme eiskalt ausnutzt“. Die russische Armee könne Charkiw in aller Ruhe beschießen: „.Wir müssen der Ukraine erlauben, mit unseren Mars-Raketenwerfern oder der Panzerhaubitze 2000 die Stellungen auf russischem Territorium anzugreifen, von denen aus sie angegriffen wird.“
Beide Waffensysteme verfügen über die notwendige Reichweite. Wie genau die bei der Übergabe getroffenen Abmachungen aussehen, unterliegt nach Angaben der Bundesregierung der „Vertraulichkeit“.
Zugleich wollte Regierungssprecher Hebestreit am Montag nicht ausdrücklich von einer roten Linie sprechen. Dies legt zumindest den Gedanken nahe, dass die Vereinbarungen die Ukraine möglicherweise gar nicht so sehr einschränken – und dies nur nicht so sehr an die große Glocke gehängt werden soll.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de