© MARTIN ARGYROGLO
Großer Auftritt zur Art Week: Gisèle Vienne entschlüsselt die Mechanismen der Gewalt
Sie arbeitet mit Tanz, Musik, Licht und Puppen. Zur Art Week ist Gisèle Viennes aufwühlende Kunst gleich an drei Orten in Berlin ausgestellt.
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Es geht sehr tief, was die französisch-österreichische Künstlerin Gisèle Vienne hier tut. Auf der Bühne, im Atelier beim Bauen ihrer Puppen, im Ausstellungsraum, wo sie mit den leblosen Körpern wieder Bühnenbilder und Choreografien entstehen lässt. Und nicht zuletzt am Schreibtisch und in der Bibliothek. Denn was die Kunst von Gisèle Vienne ausmacht, ist die Philosophie. Die Künstlerin interessiert sich für die Philosophie der Gewalt.
Trifft man Gisèle Vienne zum Gespräch, wird sie Autoren, Wissenschaftlerinnen und Feministinnen zitieren, die zu dem Thema publiziert haben, auf Englisch, auf Deutsch, die 1976 geborene Künstlerin nutzt mehrere Sprachen. Ihre Kunst beschäftigt sich mit brutalen Themen, mit Gewalt an Jugendlichen und Kindern, das reicht von normierender, autoritärer Dominanz durch Erwachsene bis zum sexuellen Missbrauch und Inzest.
Gisèle Vienne, Series PORTRAITS 44/63, 2024.
© Gisèle Vienne
Diese Sujets finden Eingang in Gisèle Viennes Choreografien und Theaterstücke, in denen sie mit Puppen, mit Licht und Musik arbeitet. Die eingesetzten Mittel, Laser, schnelle Beats, Poesie, grelle Farben, beeinflussen Emotion und Stimmung. Was wir wahrnehmen, wie wir wahrnehmen, wie wir fühlen, hängt von äußeren und inneren Faktoren ab.
„Das Feld der Kunst trägt Verantwortung für die Struktur unseres Wahrnehmungssystems und wie wir aktiv an ihm arbeiten können“, sagt Vienne, wenn man sie fragt, warum sie sich mit so schrecklichen Themen beschäftigt. „Um in dieser Welt zu leben, muss ich verstehen, wie Gewalt entsteht, wie Faschismus, Rassismus und Neoliberalismus zustande kommen und sich artikulieren.“
© Tagesspiegel
Gewalt beginnt beim Blick
Zur Berlin Art Week stellt Gisèle Vienne gleich in drei Berliner Institutionen aus: im Haus am Waldsee ist eine großartige Ausstellung mit den Puppen zu sehen, die sie in den letzten 20 Jahren erschaffen und oft auch neben Schauspieler:innen auf der Bühne eingesetzt hat. Sie liegen aufgereiht in gläsernen Särgen, Kinder und Jugendliche in Klamotten, die Jugendliche nun mal tragen, oft mit Blessuren auf der Haut.
Im Georg Kolbe Museum geht es um historische Vorbilder in der Geschichte der Avantgarde für diese Puppen mit den Silikongesichtern. Etwa bei Claude Cahun, Hannah Höch oder Sophie Taeuber-Arp, die ebenfalls Marionetten in ihrer Kunst eingesetzt haben. In den Sophiensälen wiederum ist Viennes Bühnenarbeit zu sehen.
Diese spartenübergreifende Präsentation ist das Ergebnis eines Senatsförderprogramms namens „Joint Venture“, das bereits wieder eingestellt worden ist. Schade, weil es imstande war, dem gerecht zu werden, wie Künstler heute arbeiten. Gisèle Vienne ist ein Paradebeispiel für den transdisziplinären Ansatz. Die Französin denkt über Sparten nicht nach, ihre künstlerische Forschung dehnt sich in alle Bereiche aus, nutzt Museen genauso wie Theater. Sie ist auch in verschiedenen Disziplinen ausgebildet, ist Puppenspielerin, Bildhauerin, Musikerin, Tänzerin und Philosophin.
Man muss den Körper, den Verstand und die Sinne einbeziehen, um das Wahrnehmungssystem des Menschen zu verstehen und vielleicht sogar neu zu programmieren, sodass Menschen sich nicht mehr gegenseitig erniedrigen, verletzen, dominieren wollen. Klingt utopisch. Aber in einer gewaltvollen Welt, und so erlebt Gisèle Vienne unser Dasein, zählt jeder noch so kleine Fortschritt.
Zur Art Week wird in den Sophiensälen ihr Stück „Crowd“ aufgeführt und ihr Film „Jerk“ von 2021 gezeigt. Der Film beruht auf der Geschichte des amerikanischen Serienmörders und Sexualstraftäters Dean Corll, der mithilfe zweier Jugendlicher in den Siebzigerjahren mehr als 20 Jungen ermordete. In dem Film spielt ein Schauspieler einen der Täter und rekonstruiert das Morden mithilfe eines Puppenspiels.
Gewaltfilme seien im Kino oder in Serien omnipräsent, mit der Lust am Horror werde Geld gemacht. Sie selbst schaue aus einer anderen Perspektive auf die Tat. „Die größte Gewalt beginnt mit dem Blick. Wie man jemanden ansieht oder nicht ansieht, als Mensch betrachtet oder nicht mehr als Mensch.“ Dieser Mechanismus werde in „Jerk“ analysiert, sagt Gisèle Vienne.
Was erzählen Gesten, Haut und Gesichter? Wodurch werden Körper bewegt, erregt, erschüttert, zerstört? Was wird gefühlt, aber nicht gesagt, in der Psyche abgespeichert, aber nicht ausgesprochen? Solchen Fragen geht die Künstlerin mit den unterschiedlichen Medien nach.
In der Theaterwelt ist sie bereits ein Star. Ihr Stück „Extra Life“, das 2023 bei der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde, war zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen, zählt zu den zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres. Nun wird Vienne mit ihrer sinnlichen, brutalen, tiefgehenden Kunst auch die Berliner Ausstellungsräume erobern.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de