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Selber schuld: Nikolaj Schultz über das Menschsein in der Klimakrise

Selber schuld: Nikolaj Schultz über das Menschsein in der Klimakrise

© IMAGO/Hedelin F/Andia.fr

Selber schuld: Nikolaj Schultz über das Menschsein in der Klimakrise

In seinem Essay „Landkrank“ sucht der Soziologe auf einer französischen Insel nach dem richtigen Umgang mit der drohenden Katastrophe.

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„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, so lautet einer der berühmtesten Anfänge der Weltliteratur. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Nikolaj Schultz, ein in Paris lebender Däne, Marcel Proust im Ohr hatte, als er sein Buch zu schreiben begann. Auf dessen ersten Seite gibt er zu Protokoll: „Ich gehe schon eine ganze Weile spät ins Bett, nicht weil mir das so gefiele, sondern weil die Hitze in dieser Stadt unerträglich ist.“

Das Schreiben ist da keine Hilfe, es vermag weder die körperliche Qual zu lindern noch etwas gegen den Temperaturanstieg auszurichten. Im Gegenteil verschlimmert es die Klimakatastrophe nur weiter: „Mit jedem Wort, das mit einer von weither geholten Druckerschwärze auf Papier gedruckt wird, gelangen flüchtige organische Verbindungen in die Atmosphäre.“ Mea maxima culpa. Gut 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erscheint, so darf man das verstehen, jeder Anflug von Melancholie als unangebracht, ja als dekadent. Es kann, im falschen Leben wie in der falschen Literatur, nicht mehr um leidende Seelen gehen, da doch nunmehr die Sonne dem Körper gefährlich nahe rückt.

Die Klimakatastrophe verbindet das Individuum mit dem Rest der Welt

„Landkrank“ nennt der 1990 geborene Soziologe Schultz nicht nur sein Buch, sondern auch seinen Zustand, den einerseits eine überbordende Sensibilität für die Verletzlichkeit des Lebens ausmacht und zum anderen die Gewissheit der eigenen Verstrickung in Prozesse der Verschuldung und Zerstörung. Jede kleine Konsumentscheidung produziert anderswo auf diesem Planeten existenzielle Kosten. Die Klimakatastrophe verbindet mithin das Individuum mit dem Rest der Welt, insofern es an seinem Niedergang teilhat.

Schultz’ literarischer Essay unternimmt den Versuch, die richtigen Lehren aus beidem zu ziehen: aus der Entdeckung dieser neuen Gemeinschaft wie der Einsicht in die Verantwortung, die aus dieser zu folgen hat. Ein kühler Kopf ist hierfür vonnöten, weshalb sein Alter Ego das glühende Paris bald verlässt und übers Meer auf die Insel Porquerolles flieht, bekannt für ihre malerischen Landschaften.

Während der Erkundung des Eilands klopft Schultz diverse Denkrichtungen auf ihre Aktualität ab. Den Existenzialismus etwa hält er für passé, da man heute nicht mehr wie einst Jean-Paul Sartre („Die Hölle, das sind die anderen“) davon ausgehen könne, nur für sich zu leben. „Vielmehr hat es den Anschein, als existierte ich von anderen und ernährte mich wie eine Spinne im Netz, indem ich die anderen finge und fräße.“ Von hier ist es nicht weit zur Akteur-Netzwerk-Theorie des Soziologen Bruno Latour, zu dessen engsten Mitarbeitern Schultz gehörte. Kurz vor Latours Tod vor zwei Jahren hatten die beiden noch gemeinsam ein Buch herausgebracht: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“.

Freiheit als moralisches Problem

Wie aber bildet sich Klassenbewusstsein in der Klimakatastrophe? Schultz aktualisiert Marx, indem er den Fokus vom Begriff der Produktion auf den der Reproduktion verschiebt. In dem Maße, in dem fruchtbare Böden, Süßwasser und bewohnbare Gebiete schwinden, formiert sich eine Grenze entlang jener Gruppe, die über die Mittel zur eigenen Reproduktion verfügt und dem ganzen elenden Rest.

Als einer von tausenden Tagestouristen auf der Insel lernt er bald, auf welcher Seite er selbst steht. Kaum in der Bucht seiner Träume angekommen, bittet ihn eine Bewohnerin diese zu verlassen, damit sie endlich einmal für sich sein könne. Erschrocken und beschämt zieht der junge privilegierte Mann von dannen. Auch seine Bewegungsfreiheit geht also zulasten anderer. Ohnehin ist Freiheit bei Schultz eher ein moralisches Problem denn eine politische Forderung. Er gibt sich einige Mühe, den Begriff positiv zu wenden, was ihm aber nicht so recht gelingen mag.

Denn die planetare Gemeinschaft, die ihm vorschwebt, verträgt sich nicht mit dem Autonomieversprechen der Moderne, in der das Individuum nach größtmöglicher Entfaltung strebt. Eben dieser Fokus auf die Bedürfnisse des Einzelnen (Konsum, Mobilität, Lebensqualität) ist ja letztlich verantwortlich für die Misere. In dem Maße, in dem die Auswirkungen menschlichen Handelns im sogenannten Anthropozän offenbar werden, wächst also auch die ganz persönliche Verantwortung. Das Individuum und damit der Leser wird hier lediglich verstanden als jemand, der anders wahrnehmen, konsumieren, denken und kommunizieren soll.

Du musst dein Leben ändern, ruft einem dieses Buch also zu, und schweigt dabei weitgehend vom Wir, vom Ihr, vom Sie. Es ist erstaunlich, dass der Soziologe und Aktivist Schultz den Kampf ums Überleben überhaupt nicht auf Ebene der Regulierung, der Wirtschaftspolitik oder der Technologie verortet. Stattdessen bürdet er ihn dem Einzelnen auf. Die Rettung der Welt, das ist bei ihm keine politische Aufgabe, sondern im besseren Falle eine philosophische Herausforderung, im schlechteren eine Privatangelegenheit.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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