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EU-Strategiepapier: Es geht um mehr als um Schulden
Der Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU ist ein längst überfälliger Weckruf. Die Mitgliedsstaaten wären gut beraten, sich schnell auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Denn es geht nicht nur um immer mehr Schulden.
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Steht Europa vor einer ähnlichen Herausforderung, wie dem Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? So scheint es zumindest der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi zu sehen. Denn der Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit, den Draghi im Auftrag der EU-Kommission erstellt hat, fordert nichts weniger als Reformen und Investitionen in historischen Ausmaßen: 750 bis 800 Milliarden Euro soll die EU jährlich aufbringen, um wieder produktiver und damit wettbewerbsfähig zu werden. Das sind rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU.
Zum Vergleich: Der Marshallplan, den die USA auflegten, um den Wiederaufbau der EU nach dem Zweiten Weltkrieg voranzutreiben, betrug ein bis zwei Prozent des europäischen BIP.
Die Investitionen sollten in wichtige gemeinsame Projekte fließen, zum Beispiel in den Ausbau des Energienetzes oder die Verteidigung, heißt es in dem Bericht. Denn Europa stehe vor einer „existenziellen Herausforderung“. Die EU drohe von den USA und China abgehängt zu werden. Die amerikanische Wirtschaft wachse stärker als die europäische. Das sei vor allem auf eine schwächere Produktivität der EU-Staaten zurückzuführen.
Untätigkeit bedroht Europas Wohlstand, Umwelt und Freiheit
Gelänge es Europa nicht, produktiver zu werden, sei es nicht in der Lage „gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden.“ Auch das europäische Sozialmodell könnte nicht mehr finanziert werden. In einem Gastbeitrag im „Economist“ wurde Draghi noch deutlicher. Wenn die EU nicht handele, werde sie entweder ihren Wohlstand, ihre Umwelt oder ihre Freiheit opfern müssen
Um dieses Schicksal abzuwenden, sind laut Draghis Strategiebericht die Rekordinvestitionen notwendig. Und um die zu stemmen, seien möglicherweise neue „“gemeinsame Quellen „“ erforderlich, heißt es lapidar. Damit ist aber nicht anderes gemeint als gemeinsame europäische Schulden. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, Mario Draghi mache einfach dort weiter, wo er 2019 als Präsident der Europäischen Zentralbank aufgehört hat.
Als nach dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise 2009 die Staatsschulden vieler europäischer Länder rasant anwuchsen und Spekulanten auf ein Ende der Währungsunion wetteten, beruhigte der damalige EZB-Chef Draghi die Finanzmärkte mit dem berühmten Satz, die EZB werde zur Rettung des Euro tun, „was immer nötig ist“ („Whatever it takes“). Notfalls würde die EZB die jeweiligen Staatsanleihen der wankenden Länder aufkaufen. Draghis Versprechen und milliardenschwere Hilfsprogramme hielten die Währungsunion am Leben. Für Kritiker war dies der Beginn einer unrechtmäßigen Vergemeinschaftung der europäischen Staatsschulden.
Ablehnende Reaktionen auf Draghis ließen auch nicht auf sich warten. Finanzminister Lindner erteilte Draghis Vorstoß nach gemeinsamen Schulden eine Absage: „Die Vergemeinschaftung von Risiken und Haftung schafft demokratische und fiskalische Probleme“, sagte Lindner. „Deutschland wird dem nicht zustimmen.“ Gemeinschaftliche Schulden sind nicht nur hierzulande ein rotes Tuch. Die Regierungen in den Niederlanden, Österreich und Finnland lehnen das Konzept ebenfalls ab.
Auch die Alternative, statt gemeinsamer Schulden die Mitgliedsbeiträge zur EU zu erhöhen, dürfte auf breite Ablehnung stoßen. Da nicht nur in Deutschland, sondern auch überall in Europa rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien an Stärke gewinnen, die das Projekt Europa zurückdrängen oder sogar beenden wollen, werden viele europäische Regierungen auch dafür nicht zu begeistern sein.
Es geht um mehr als um Schulden
Trotzdem täten die Politiker in Brüssel und Berlin gut daran, Draghis Bericht nicht nur auf die Forderung nach weiteren Schulden zu reduzieren. Bei dem Bericht handelt es sich nicht nur um eine (wohlgemeint weitere) treffende, wie schonungslose Analyse der wirtschaftlichen Lage Europas. Er listet eine Reihe von Strukturreformen auf, die die EU dringend umsetzen müsste. So kritisiert der Bericht etwa, dass die EU-Staaten gemeinsame Ressourcen in wichtigen Bereichen verschwenden würden: in der Verteidigungspolitik, wo die Mitgliedsstaaten ihre Waffensysteme aufeinander abstimmen sollten, um Kosten zu sparen.
Auch bei der Dekarbonisierung müsse sich die EU besser koordinieren. Um die Energiepreise zu senken, brauche es „alle verfügbaren Lösungen“. Gemeint sind damit auch Atomkraft und CO₂-Abscheidung sowie schnellere Genehmigungen für Kraftwerke und Netze. Um die erforderlichen Investitionen zu stemmen, schlägt der Bericht auch eine Vertiefung der Kapitalmarktunion vor. Auch dadurch ließen sich private Mittel mobilisieren.
Und noch einen wichtigen Vorschlag findet sich im Draghi-Report: Er empfiehlt, die sogenannte qualifizierte Mehrheitsentscheidung, bei der für einen Beschluss nicht die absolute Mehrheit der Mitgliedsstaaten dafür stimmen muss, auf mehr Bereiche auszuweiten. Als letztes Mittel sollte es zudem gleichgesinnten Ländern gestattet werden, notfalls eigene Wege zu gehen. Das ist richtig, denn die Entscheidungsstrukturen der EU sind nicht mit den Herausforderungen mitgewachsen.
Die EU muss endlich ihre Strukturen reformieren
All diese Vorschläge haben gemeinsam, dass sie bei den Strukturen ansetzen, um bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie lassen sich auch umsetzen, ohne neue Schulden aufzunehmen. Dass sich bessere Investitionsbedingungen auch durch steuerliche Anreize erreichen lassen, hat zuletzt der amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) der Regierung von Präsident Joe Biden gezeigt. Unternehmen, die in grüne Technologien investieren, werden dort mit Steuererleichterungen belohnt.
Statt einem Dreiklang aus einer koordinierten Industriepolitik, schnelleren Entscheidungswegen und massiven Investitionen wäre schon viel erreicht, wenn sich die Europäischen Union auf einen Zweiklang aus Strukturreformen und besserer Abstimmung einigen könnte.
Viele der im Draghi-Report genannten Punkte sind nicht neu. Die EU sollte sie endlich umsetzen.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de
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