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Neuer Roman von T.C. Boyle: Der Affe kann denken, reden und lieben

Neuer Roman von T.C. Boyle: Der Affe kann denken, reden und lieben

© imago/Hartenfelser

Neuer Roman von T.C. Boyle: Der Affe kann denken, reden und lieben

In seinem furiosen Roman „Sprich mit mir“ erzählt T. C. Boyle von Primatenforschern und einem Schimpansen, der mit Menschen kommuniziert.

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Wenn alles so wäre wie immer, müsste Tom Coraghessan Boyle längst auf dem Weg nach Deutschland sein. Er würde sein „Bühnenoutfit“ anlegen, um „wieder zu T. C. Boyle zu werden“, wie er im November auf seinem Blog schrieb.

Es ist die Rolle seines Lebens. Nirgendwo wird der US-Schriftsteller so gefeiert wie hierzulande, wo er als literarischer Rockstar gilt, als cooler Typ: abgebrochene Drogenkarriere, die Eltern Alkoholiker, aufgestiegen von ganz unten. Der mittlerweile zweiundsiebzigjährige Kalifornier füllt Säle.

Der Schimpanse beherrscht die Gebärdensprache

Nun sitzt er in seinem von Frank Lloyd Wright entworfenen Haus in Montecito im Osten von Santa Barbara. Der Hanser Verlag, dem er das famose Agreement gewährt, dass die deutsche Übersetzung seiner Bücher Wochen vor dem englischen Original erscheinen darf, hat einen kleinen Film produziert.

Da sieht man Boyle lässig auf dem Sofa sitzen. Das Enkelkind turnt um ihn herum, der Familienhund springt durch die Gegend, und er erklärt, dass es in seinem neuen Roman „Sprich mit mir“ um tierisches Bewusstsein gehe, so wie in seinem letzten Roman um menschliches Bewusstsein. „Das Licht“ erschien 2019 und erzählt von den Drogenexperimenten rund um den Hippie-Guru und Harvard-Professor Timothy Leary.

Sam ist ein Schimpanse, der sprechen kann, zumindest in Gebärdensprache. Er kennt seinen Namen, er kann um Essen bitten oder „süß“ sein, er bekundet vehement, wenn ihm was nicht passt. Guy Schermerhorn, Privatdozent für Psychologie in Santa Maria, will mit einem im Aufbau begriffenen Primatenforschungsprogramm Karriere machen.

Der Leiter des Programms, Dr. Moncrief, sitzt in Iowa. Ein riesiger Mann, machtbewusst, brutal, eine Augenklappe dokumentiert den Kampf mit einem Primaten. Der smarte Guy ist mit Sam in einer Fernsehshow aufgetreten. Er verspricht sich Ruhm und Publicity und damit Forschungsgelder.

[T. C. Boyle: Sprich mit mir. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2021. 349 S., 25 €.]

Wie Millionen anderer hat auch Aimee, eine schüchterne Psychologie-Studentin, die Sendung gesehen. Sie hängt an einer Hausarbeit fest, kann sich nicht motivieren und kommt mit ihrem Studium einfach nicht voran. Also bewirbt sie sich bei Guy, als der studentische Hilfskräfte für sein „Fremdpflegeprojekt“ sucht.

Es geht um die Aufzucht von Schimpansen durch Menschen. Sie soll Rückschlüsse auf Möglichkeiten des Spracherwerbs geben. Melanie, Guys Frau, hat sich vor drei Wochen aus dem Staub gemacht. Sie hatte genug von der Verantwortung für Sam. Alles blieb an ihr hängen, während Guy in der Uni oder auf Vortragsreisen war.

Anspielungen an Hollywood-Filme

Aimee ist nicht die einzige Bewerberin. Es gibt noch eine Studentin, Barbara, sowie ein Studenten-Pärchen, das sich bereits um Sam kümmert. Als Aimee auf der Ranch ankommt, herrscht Tohuwabohu. Sam hat Elise ins Kinn gebissen. Überall liegen Gegenstände herum. Der Stress ist mit Händen zu greifen.

Und Sam, der das ganze Chaos angerichtet hat, haut ab. Kaum steht die Eingangstür einen Moment offen, wischt er hinaus – und springt direkt in Aimees Arme. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Anders kann man es nicht nennen. Sie nimmt sofort die Mutterrolle ein und wird, kaum überraschend bei diesem Namen, auch Guys Geliebte.

Das klingt nach Hollywood? Oh ja! Und es gibt in diesem Roman viele Anspielungen auf einschlägige Filme, vom „Planet der Affen“ über „Tarzan“ bis „King Kong“, ebenso auf Roadmovies wie „Badlands“, „Getaway“, „Bonnie und Clyde“. Boyles Roman spielt Ende der siebziger Jahre. MeToo ist noch weit weg.

Wenn ein Professor eine Studentin schön findet, will er sie auch. Und selbstverständlich kann er sie haben. Der Sound der Talking Heads macht den Auftakt, mit der bassbetonten Coverversion von „Take Me To The River“, die auch den Showdown ankündigt, als die Sache aus dem Ruder läuft.

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T. C. Boyle platziert seinen Plot genau auf der Nahtstelle, als der Behaviorismus mit seinem relativ schlichten Reiz-Reaktions-Schema von einer Verhaltensforschung abgelöst wird, die Primaten ein weit komplexeres Verhalten zutraut, was Kognition, Emotion und Kooperation betrifft. Zwischen Aimee, Sam und Guy richtet sich über die Jahre ein fast gewöhnliches Familienleben ein. Sie bringt Sam ins Bett, liest ihm vor, versorgt ihn, versucht seine kognitiven Fähigkeiten auszubauen.

Doch unterdessen ändern sich die Auspizien der Primatenforschung. Noam Chomsky habe Recht behalten, argumentiert Moncrief, dem Sam gehört, die Sprache sei das Privileg des Menschen. Es habe keinen Sinn, weitere Anstrengungen in das Projekt zu investieren.

Mit Schlafmitteln ruhiggestellt nach Iowa verfrachtet

Guy gibt nach, als Moncrief sein „Eigentum“ zurückfordert. Aimee ist empört: „Er ist eine Person, das weißt du genau – er kann sprechen, er kann denken, er liebt uns. Er ist hier zu Hause.“ Für Guy war die Bindung, die sie aufgebaut haben, nur ein Mittel, um Sam gefügig zu machen. Als sein „Besitzer“ den mit Schlafmittel ruhiggestellten Sam im Flugzeug nach Iowa transportiert, fährt Aimee mit dem Auto hinterher.

Was passiert im Kopf eines Schimpansen, der sich für einen Menschen hält? „Sprich mit mir“ ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Auch Sam bekommt einen eigenen Bewusstseinsstrom, in dem die Worte, die er als Gebärde kennt, in Versalien gesetzt sind: SCHLÜSSEL beispielsweise oder SCHLOSS, RAUS, ANGST, BODEN, TRINKEN. Und warum spricht er ständig von KÄFERN? Es dauert, bis er in den vermeintlichen Insekten seine Artgenossen erkennt.

Aids-Forschung ist plötzlich lukrakiver als Verhaltenspsychologie

Anders als die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall oder Michael Tomasello, der frühere Co-Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, beobachtet T. C. Boyle seinen fiktiven Schimpansen nicht aus wissenschaftlicher Distanz. Seine Warte ist anthropozentrisch und darf das sein. Schließlich ist er Schriftsteller und kann als solcher die Empathie dorthin lenken, wo es seiner Geschichte dient.

Das Vertrauen zwischen zwei Lebewesen, auch wenn sie nicht der gleichen Art angehören, ist das Zentrum seines Plots. Sie sind Vexierbilder und Stimmungsbarometer füreinander. Nachdem Aimee, um in Sams Nähe zu sein, in den grauenhaften Forschungsanlagen Moncriefs anheuert, brennt sie schließlich mit ihm durch, als noch Schlimmeres droht. Die Zeit der Aids-Forschung ist angebrochen, sie ist lukrativer als die Verhaltenspsychologie.

Im Grunde ist "Sprich mit ihr" ein Liebesroman

So landen sie in einem Trailerpark in Arizona. Eine Frau und ein Schimpanse im Wohnwagen: Willkommen in Boyle- County. In vielen seiner Kurzgeschichten, die vielleicht noch großartiger sind als seine Romane, lässt er diese Stimmung aufleuchten: Aussteiger, Underdogs, alkoholselige Waffennarren finden sich unter dem Regime des Trailer-Managements zu einer Gemeinschaft mit eigenen Regeln zusammen. Aimee versucht unauffällig zu leben.

Nachts putzt sie in Arztpraxen, während Sam in einem Hundekorb auf der Rückbank schläft. Immer mehr gerät sie in Isolation.

„The Familiar“, das Vertraute, war der ursprüngliche Arbeitstitel des verlässlich im Boyle-Sound von Dirk van Gunsteren übersetzten Romans. T. C. Boyle hat ihn fertiggestellt, als in Kalifornien die schlimmsten Waldbrände aller Zeiten wüteten und neben Covid-19 auch Trump die Welt in Atem hielt. Trotz seines furiosen Suspense hat „Sprich mit mir“ eskapistische Züge. Im Grunde handelt es sich um einen Liebesroman – zwischen einer Mutter und einem Kind, das niemals erwachsen wird.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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