© Nadine Lange
Nichtseattle live im Frannz Club: Indie-Pop mit schönen Schrammen
Katharina Kollmann alias Nichtseattle hat mit „Haus“ eine der besten deutschsprachigen Platten des Jahres veröffentlicht. Zum Abschluss ihrer Tour stellte sie es beim Konzert in Berlin vor.
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Ein Lied mit „65 Prozent guter Laune“ kündigt Katharina Kollmann nach etwa einer Stunde im Frannz Club an. Das ist ein ziemlich hoher Positivitätsanteil für das Universum der Berliner Musikerin, die unter dem Namen Nichtseattle bekannt ist. Diese Einschätzung hängt zwar entscheidend davon ab, wie man gute Laune definiert. Im Fall von „Unterstand (Schirmpilz)“ lässt sie sich allerdings recht deutlich in der ersten Strophe und im ersten Refrain verorten, in dem es heißt: „Ich glaub, wir sind alle verwandt/ Es ist der eine Unterstand/ Im aussichtslosen Niederschlag“.
Vierstimmig gesungen, sanft in die Höhe geschwungen, folgen die 35 Prozent schlechter Laune jedoch auf dem Fuße. Sie kommen von einem Gegenüber, das sich plötzlich fern fühlt, einfach nur weg will: „Kein Wort mehr, kein Blick, Laden zu.“ Da ist es dann auch nichts mehr mit dem gemeinsamen Unterstand und der Verwandtschaft.
Leise Euphorie
Aber weil das Gute die Oberhand behält, kehren nicht Nichtseattle und ihre vierköpfige Band schließlich unter den Schirmpilz der Gemeinsamkeit zurück, wodurch der Song eine leise Euphorie entfaltet, die in der Albumversion erstaunlicherweise auch auf den Einsatz von Blockflöten zurückzuführen ist.
Die fehlen zwar im ausverkauften Frannz, seine beglückende Wirkung behält das Stück. Was sich für das gesamte Konzert sagen lässt, mit dem die Band den ersten Teil ihrer „Haus“-Tour abschließt. Das im April erschienene gleichnamige Indie-Pop-Album ist das dritte Nichtseattle-Werk und eine der stärksten deutschsprachigen Platten der jüngsten Vergangenheit.
Kollmann verbindet darauf Privates mit Politischem, stellt Klassenfragen und besingt die Suche nach zwischenmenschlicher Verbindung. Das Haus und die Unbehaustheit sind nie allein Metapher, es geht stets auch ganz konkret um Raum und Eigentum.
Im Eröffnungsstück „Beluga (Eigentumswohnung)“ fällt beides aufs Feinste zusammen. In über acht Minuten kommt Kollmann über mäandernde Gitarrenpfade von einem missglückten Date mit einem pseudofeministischen Biolinsen-Yoga-Typen, auf ihre „Zuhause-Stadt, die viel zu viele Zelte hat“ und schließlich zu der tröstlichen Erkenntnis: „All die Schrammen machen uns rund/ Es ist mein allerschönster Fund: / So Gesichter von Freunden / Die ganz ruhig erzählen/ Was sie gerade wirklich fühlen.“
Freundschaft als Heimat – im Spätkapitalismus letztlich ein widerständiges Konzept. Damit wären sicher auch Tocotronic einverstanden, auf deren Song „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“ Nichtseattles Künstlerinnen-Name anspielt. Besagter Dirk (von Lowtzow) hat übrigens eine Hauptrolle in einem ihrer Videos.
Eine entspannte Freundlichkeit prägt den Auftritt von Nichtseattle an diesem Abend. Die Musikerinnen und Musiker lächeln viel, auch ins Publikum, in dem zahlreiche Freunde stehen. Eine Mischung aus Wärme und Lakonie erfüllt das Spiel des Quintetts. Es bringt Kollmanns Lieder wunderbar zum Strahlen, sodass das reduzierte Klangbild des Vorgängeralbums „Kommunistenlibido“ nun um kluge Band-Arrangements erweitert wurde.
Die Gruppe arbeitet geschickt mit Dynamik, wobei die beiden E-Gitarren immer das Zentrum bilden. Kollmann zerlegt Akkorde mit ihrem Drei-Finger-Picking auf eine ganz eigene, mal eckige, mal girlandenförmige Weise, die von Sebastian Wiege fast symbiotisch umspielt, parallelisiert und intensiviert wird. Besonders gut zur Geltung kommt all das bei den Konzert-Highlights „Frau Sein (Werkstatt)“ und „Krümel noch da (Tagescafé)“, zu denen Gregor Lener mit Flügehorn und Trompete Sehnsuchtsakzente beisteuert, die kurz an Zach Condons Beirut denken lassen.
Wehmut auf der Treskowallee
Für den Song „Treskowallee (Zelt)“, in dem Kollmann in Erinnerung an ihren Schulweg über das Vergehen der Zeit sinniert, wechselt Bassistin Juliane Graf ans Akkordeon, dessen Harmonie von Wieges angezerrter E-Gitarre ins Unsentimentale geschoben wird. Für die letzten Takte greift Graf dann zur Klarinette, weht unisono mit Leners Trompete gen Wehmut, „Juhu“ singt Kollmann – und ein Fan antwortet ebenso.
Bei den Zugaben gibt es mit „Die Idee“ und „Unter der Sohle deines Schuhs“ noch zwei ältere Hits und mit „Haus aus Papier“, das laut Kollmann „versöhnlichste Lied, das ich im Angebot habe“. Stimmt – und es entlässt die Menschen mit 100 Prozent guter Laune in die Nacht.
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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de