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Reden über den Nahost-Konflikt: Was stärkt die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten?

Reden über den Nahost-Konflikt: Was stärkt die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten?

© Gestaltung: Tagesspiegel | freepik

Reden über den Nahost-Konflikt: Was stärkt die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten?

Likes und Empörung sind nicht genug: In ihrer Rede zur Eröffnung der Thementage „Reflexe und Reflexionen“ plädieren Meron Mendel und Saba-Nur Cheema für mehr konstruktiven Diskurs.

Von

  • Meron Mendel
  • Saba-Nur Cheema

Als wir an einem Sonntag vor zwei Wochen in Hamburg waren, fand dort der Ironman statt. Hunderte von Radfahrenden rasten an uns vorbei. Eine Person hat uns in diesem Schwarm gefehlt: Shaul Levi. Vor einem Jahr war er noch dabei. Im Alter von 74 Jahren absolvierte er den Wettkampf als einer der Besten in seiner Alterskategorie. Dieses Jahr blieb er in Israel. Seit acht Monaten kann er sich nicht mehr seiner sportlichen Leidenschaft widmen. Stattdessen kämpft er für die Befreiung seiner 19-jährigen Enkeltochter Naama, die am 7. Oktober von der Hamas verschleppt wurde. Noch an jenem Tag verbreitete sich in den sozialen Medien ein Kurzvideo, in dem die junge Frau in blutig verschmierter Hose und mit verängstigtem Blick von Hamas-Kämpfern in einen Jeep gezerrt wird. 

Es kommt uns manchmal schon wie eine Zumutung vor, wenn wir hier in unserem bequemen Alltag über Menschen dort urteilen, wenn wir uns einmischen und Forderungen stellen. Aber doch, wir glauben, dass die Zivilisten vor Ort auf beiden Seiten unsere Solidarität brauchen. Wir wünschen uns, dass der Krieg in Gaza endet. Wir wünschen uns, dass alle Geiseln wieder nach Hause können. Und wir glauben fest daran, dass ohne Unterstützung der Weltgemeinschaft kein Frieden möglich ist. Deshalb muss die Debatte auch hier geführt werden. Jedoch nicht als Selbstzweck, um die vermeintliche eigene moralische Überlegenheit zu feiern. Wie bequem es ist, mit einem Like hier und einem Post da, das Gefühl zu haben, die Welt zu retten. Das Motiv für unsere Debatte hierzulande sollte jedoch nicht sein, was ich brauche, um mich gut zu fühlen. Im Vordergrund sollte die Frage stehen: Was stärkt die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten?

Die radikalsten Stimmen geben den Ton an

Es war für viele Juden in diesem Land eine schmerzhafte Erkenntnis, dass nach dem größten Massaker an Juden seit 1945 der gesellschaftliche Reflex des Entsetzens ausblieb. Auf den Straßen, in Schulen oder in Musikclubs: Überall fehlte ein spontaner Ausdruck der Trauer und des Mitgefühls. Der Mangel an Reflexen in den ersten Tagen ist inzwischen durch routinierte Hyperreflexe ersetzt worden. Man fiebert mit der eigenen Mannschaft mit, man brüllt den Gegner nieder. In den sozialen Medien, auf den Straßen und dem Uni- Campus erleben wir, dass die radikalsten Stimmen den Ton angeben. Und als Folge erleben wir einen Höhepunkt von antisemitischen und muslimfeindlichen Angriffen. Was viel zu oft auf der Strecke bleibt, sind Räume für Reflexion.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, diese Norm gilt nicht nur für unser deutsches Grundgesetz, sondern ist universell. Und sie gilt nicht nur für eine bestimmte ethnische, religiöse oder nationale Gruppe, sondern für alle. So banal wie es auch klingen mag: Fundamentalisten gibt es auf beiden Seiten. Aber auch Menschen, die sich für Frieden einsetzen, auch die gibt es auf beiden Seiten.

Der Blick auf die Friedensbemühungen und Initiativen dort ist für die Nahost-Debatte in Deutschland eigentlich unerlässlich – und doch spielen sie hier kaum eine Rolle. Es überwiegen die Reflexe, das Lagerdenken. Solidarisch mit Israelis und mit Palästinensern zu sein, scheint schier unmöglich. Als jüdisch-muslimisches Paar spüren wir die Konfliktlinie zwischen Juden und Muslimen hierzulande deutlicher und schmerzhafter seit dem 7. Oktober. Denn ganz selbstverständlich bezieht – unabhängig von ihrer Herkunft – ein großer Teil der Juden und Muslime deutlich Partei. Schon die letzten Eskalationen zwischen Israel und der Hamas führten zu weiteren Belastungsproben für die Beziehung zwischen Juden und Muslimen. Nun wird aufs Neue deutlich, wie fragil diese Beziehungen sind.

Unsere jeweiligen Timelines zeigen seit dem 7.Oktober zwei parallel existierende Realitäten. Nach der Befreiung von vier israelischen Geiseln letzte Woche überwogen bei dem einen die Fotos der feiernden Familien; bei der anderen waren die Videos der Zerstörung und der Toten im Flüchtlingslager omnipräsent.

Der Elefant im Raum

Seit Jahren ist die Rede von Allianzen und Brücken zwischen Juden und Muslimen und gerne werden Wohlfühlprogramme veranstaltet: Fahrradtouren, Fußballspiele und Kochduelle. Oder aber man konzentriert sich auf den gemeinsamen Feind: die Rechten. Hauptsache, man bleibt im Konsens. Dabei umschifft man gewisse Themen im großen Bogen, um bloß nicht über den Elefanten im Raum zu sprechen: den Nahost-Konflikt.

Auch innerhalb des demokratischen Lagers wird ein Konflikt sichtbar unter jenen, die eigentlich die gleichen humanistischen Werte teilen. Die Imperative „Nie wieder Holocaust“ und „Nie wieder Kolonialismus“ werden hier gegeneinander in Stellung gebracht, als ob sie sich gegenseitig ausschließen.

Auch wenn es schwerfällt, müssen wir den Dissens, der sich derzeit auf der Straße und in den sozialen Medien lautstark und mit moralischer Wucht äußert, in konstruktive Räume bringen – und damit meinen wir nicht nur Israelis und Palästinenser, nicht nur Juden und Muslime in Deutschland, sondern alle, die bereits teilhaben und jene, die sich noch beteiligen wollen. In unserer Dialog- und Bildungsarbeit haben wir Regeln für diese Räume entwickelt, diese sind: Weder das Existenzrecht des Staates Israel noch das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat sollen infrage gestellt werden. Die Gesamtschuld für den hundertjährigen Konflikt nur einer Partei anzulasten, ist falsch. Jegliche NS-Vergleiche verbieten sich genauso wie jede andere Form von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Über alles andere kann gestritten werden. 

Boykott zerstört die Diskussionskultur

Für uns lautet die Antwort auf die grassierende Boykott-Mentalität das Gegenteil von Boykott, nämlich (mehr) Diskurs wagen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die größten Kritiker der antiisraelischen Boykottbewegung BDS auf die gleichen Waffen zurückgreifen: Wenn sie die Ausladung von BDS-Unterstützern fordern, reagieren sie auf Boykott mit Gegenboykott. Auf der einen Seite werden israelische Künstler, Wissenschaftler und sogar Friedensaktivisten in internationalen Programmen gar nicht erst eingeladen oder nachträglich ausgeladen. Und auf der anderen Seite haben wir es seit dem 7. Oktober mit einer Reihe von Absagen von Veranstaltungen zu tun, die palästinensischen oder propalästinensischen Stimmen ein Forum geboten hätten. Beide Seiten bedienen die Logik des Boykotts. Beide Seiten erodieren unsere Diskussionskultur.

Dass es ganz anders laufen kann, dass ehrlicher Dialog möglich ist, kennen wir ausgerechnet aus der Konfliktregion selbst, aus Israel und Palästina. Beispielsweise im Friedensdorf Givat Haviva, dort haben wir den Palästinenser Mohammad Darawshe kennengelernt. Er kann stundenlang seine Vision vom friedlichen Zusammenleben zwischen Palästinensern und Juden vortragen. Sein Cousin Awad Darawshe wurde am 7. Oktober von Hamas-Terroristen ermordet. Der 24-jährige Sanitäter starb während seines Einsatzes auf dem Musikfestival. Gerade jetzt, nach dem 7. Oktober, steht der Dialog unvergleichlich unter Druck – er ist aber auch unausweichlich geworden. Er ist das Fundament für eine hoffentlich friedlichere Zukunft für Israelis und Palästinenser. Und das gibt uns Hoffnung.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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