Nachrichten, Lokalnachrichten und Meldungen aus Berlin und Brandenburg, Polizeimeldungen und offizielle Pressemeldungen der Landespressestelle des Landes Berlin.

Politische Theorie: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist kein Rechenspiel

Politische Theorie: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist kein Rechenspiel

© REUTERS / Darrin Zammit Lupi

Politische Theorie: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist kein Rechenspiel

Von der immunitären Logik des Nationalen und seiner Rhetorik: Donatella di Cesare entwirft eine Philosophie der Migration.

Das neue Buch der italienischen Philosophin Donatella di Cesare ist nicht nur eine „Philosophie der Migration“. Der Originaltitel benennt die Figur, um die alle Gedanken kreisen: „Stranieri residenti“ – ansässige Fremde. Di Cesare spricht also nicht von Staatenlosen, sie bemüht nicht die unheimlichen Metaphern von Invasionen, Flüchtlingswellen und -strömen, gegen die es Mauern zu errichten gilt, sondern sie sagt: Da wohnt jemand, der fremd ist.

[Donatella di Cesare: Philosophie der Migration. Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Matthes & Seitz, Berlin 2021.345 Seiten, 26 €.]

Donatella di Cesare ist Professorin an der Universität La Sapienza in Rom. Während die Schülerin Hans-Georg Gadamers hierzulande bisher vor allem als Phänomenologin und Heidegger-Expertin bekannt war, wird nun auch ihre Bedeutung als politische Theoretikerin wahrgenommen. Alle ihre neueren Texte spielen mit einer besonderen Topik. Die Heimat dieser Texte ist für sie eine Grenze: „keine Linie, sondern ein Ort – ein Ort der Berührung und des Konflikts, der Begegnung und der Spannung zwischen Selbst und Anderen.“

Von hier aus zielt di Cesare ins Zentrum ihres Gegenstands. Migration denkt sie nicht länger im Paradigma von Grenze und Immunität, sondern als Phänomen, dass der politischen Ordnung vorausgeht und sie bedingt. Von der Grenze ins Zentrum, vom Ausnahmezustand zu den versteckten Tiefenstrukturen unserer politischen Systeme, zu den weitläufigen Genealogien, die bis nach Rom und Athen reichen: Darin liegt ein Programm, das seit einigen Jahren immer stärker mit dem Namen Italian Theory verknüpft wird.

Dafür muss zunächst allerlei dekonstruiert werden. In di Cesares Philosophie der Migration richtet sich diese Arbeit auf zwei große Regime, die unser Sprechen und Denken bestimmen. Eines funktioniert diskursiv, indem Migration und Flucht aus der politischen Sphäre ausgeschlossen und dem Bereich der Moral überantwortet werden.

Migration als abstrakte Frage

Hierzu zählt di Cesare nicht nur die politische Rhetorik, die etwa dem Tod von Geflüchteten im Mittelmeer mit Betroffenheit begegnet, deren Benutzer aber nicht willens sind, dieses Sterben zu beenden. Auch die Philosophie ist an dieser Verschiebung beteiligt. Als Gegenstand moralischer Rechenspiele wird Migration zu einer abstrakten Frage, die man auf diese oder jene Weise beantworten kann. Die Sprache, in der sich das Problem stellt, ist indes von der Analyse ausgeschlossen. So werden die Kategorien verstetigt, die eigentlich hinterfragt werden sollten: Staat, Territorium und Grenze.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob man für die Aufnahme einer bestimmten Zahl von Geflüchteten oder dagegen argumentiert. Stets folgen die Debatten jener „immunitären Logik der Nation“, die suggeriert, wir dürften entscheiden, wer kommen darf und wer sterben muss.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte dieser Diskurs in einer Preisfrage der Deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie zur Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“, fragte man da, ganz so, als sei dies etwas, das sich tatsächlich diskutieren ließe. „Abgesehen von den nur schlecht begründeten und zum Teil haarsträubenden begrifflichen Unterscheidungen“, schreibt di Cesare, „verfolgt diese patriotische Kasuistik letzten Endes das Anliegen, die politische Diskriminierung der Migranten moralisch zu legitimieren.“

Bei dieser Kritik der Moral bleibt die Autorin nicht stehen, sondern unternimmt eine ambitionierte Übersetzungsleistung: Aus dem moralischen Exil befreit, soll Migration wieder politisch werden. An diesem Punkt finden wir uns bereits mitten im Herrschaftsgebiet des zweiten Regimes, der liberalen Demokratie und den politischen Philosophien, die sie umkreisen, schließlich dem Gesellschaftsvertrag selbst, den di Cesare als mehrfache Fiktion entlarven will.

Unter dem Fokus der Migration entpuppen sich die zentralen Sätze der politischen Theorie Europas als Hilfskonstrukte, die nur dazu dienen, die Mechanismen der Immunisierung, der Grenzziehung und des Ausschlusses am Laufen zu halten. Bewegungsfreiheit als Menschenrecht, aber eben nicht für jeden. Eine offene Gesellschaft, aber den Dienst an der Tür übernehmen wir. Es sind diese konstitutiven Widersprüche unserer liberalen Ordnungen, die di Cesare offenlegt.

Asyl auf Lampedusa

Dass all dies viel weniger abstrakt ist, als es scheint, wird deutlich, wenn die Autorin nach Lampedusa geht. „Auf dem offenen Meer vor Lampedusa, nur einige Meilen vom ersehnten Ziel entfernt, haben unzählige Migranten in der Tiefe ihr Asyl gefunden. Die ‚Illegalen‘, ‚Klandestinen’, Verborgenen, die in diesem geheimen, stummen und einsamen Raum versanken, haben nie wieder das Tageslicht erblickt. Und doch werden sie Zeugen sein. Sie werden den Kommenden von ihren desaströsen Irrfahrten berichten und von ihrem Irrtum erzählen: Europa“.

Wer könnte diesem Unheil entsteigen? In der Figur des ansässigen Fremden erkennt di Cesare ein doppeltes Potenzial: Als politische Figur vermag er unsere Ordnung zu sprengen. Gleichzeitig ruft er uns in eine Verantwortung, die es wieder wahrzunehmen gilt: die Gastfreundschaft. Darunter versteht di Cesare im Anschluss an Martin Heidegger, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida den Charakter unseres Wohnens auf dieser Erde.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie  herunterladen können.]

Tatsächlich auf dieser Erde, denn die neoliberale Fiktion des Weltbürgertums und der durchlässigen Grenzen – die gleichwohl jederzeit wieder geschlossen werden können – bietet ihr keine Lösung. „Da sich der Bürger innerhalb der Mauern der Stadt, der er angehört, konstituiert und nicht im offenen Raum der Welt, erscheint Weltbürgerschaft als ein Widerspruch in sich.“ Das ist die Bewegung einer großen Rückkehr, von den Strömen zurück an einen Ort, eine Nachbarschaft, in der es sich wohnen lässt.

Donatella di Cesare gibt in ihrem neuen Buch keine Lösungsvorschläge, und behauptet auch nicht, das zu tun. Anders als etwa Giorgio Agamben, der seit Beginn der Pandemie in einer Art paranoider Verzückung überall, wo Infektionsschutz betrieben wird, totalitäre Machenschaften am Werk sieht, bemüht sich di Cesare um einen vorsichtigen Blick.

In ihrem Nachwort beschreibt sie, wie die Politik des immunitären Ausschlusses, die seit jeher die Migration betrifft, in der Pandemie noch verschärft wurde. Unausgesprochen bleiben hier Moria und alle anderen Lager an Europas Außengrenze, die auch dadurch nicht verschwinden, dass wir eine Zeit lang nicht über sie gesprochen haben.

Wenn auch keine Lösung, so gibt es doch einen Ausblick. Europa, noch nicht ganz verloren, hat die Chance, sich im „Zeichen des gemeinschaftlichen Zusammenwohnens“ zu verwandeln. Dazu braucht es einen neuen Pakt, keinen Gesellschaftsvertrag. Die Mitgliedschaft wird jedenfalls nicht exklusiv sein.

Alexander Schnickmann

Zur Startseite

showPaywall:falseisSubscriber:falseisPaid:showPaywallPiano:false

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.